100 Jahre Elektronische Musik

eine multimediale Lernumgebung

05. Elektronische Musik der "Kölner Schule"

Die Koordinaten der "Kölner Schule" sind: (1) Der WDR war 1951 bereit, im Funkhaus Köln ein Elektronisches Studio einzurichten und zu finanzieren (d.h. Stellen für einen künstlerischen Leiter, einen Tontechniker, weitere Ressourcen des Rundfunkbetriebs zur Verfügung stellen); (2) die im WDR-Studio produzierte Musik konnte sofort über Rundfunk verbreitet und im Sendesaal als Konzert gespielt werden; (3) Köln war eng verknüpft mit den "Darmstädter Ferienkursen", wo die "serielle Musik" entwickelt und propagiert worden ist, der Kölner Leiter Herbert Eimert war ein anerkannter Theoretiker der Zwölfton- und Seriellen Musik; (4) über die Kanäle Köln und Darmstadt hatten die Kölner Komponisten Zugang zu den zwei in Neuer Musik mächtigsten deutschsprachigen Musikverlagen (Universal-Edition Wien, Schott Mainz); (5) ideologisch und kompositionstechnik grenzte sich Köln explizit von Paris ab und stand insofern in Konsens mit der herrschenden "Donaueschinger Meinung", d.h. der mitteleuropäischen Avantgarde (siehe "Orphée 53" in der 4. Stunde!); (6) im Gegensatz zur Verknüpfung der US-elektronischen Musik mit zwei renommierten Universitäten hatte Köln nur einen geringen akademischen Hintergrund: die vor allem von Stockhausen publizierten "Theorien" waren nicht wissenschaftlich fundiert sondern spekulative, oft esoterische Behauptungen zur Legitimation oder Erläuterung seiner Konstruktionsideen, der einzige und anfangs viel zitierte Wissenschafler Meyer-Eppler steuerte lediglich psychoakustisches Grundlagenwissen bei; (7) innerhalb kurzer Zeit wurde das Kölner Konzept an mehreren europäischen Rundfunkstationen (Mailand, Warschau, Stockholm, Gent/Den Haag) nachgemacht, wodurch Köln die Aura einer Pionier-Institution erhielt, obgleich Pierre Schaeffers Pariser Studio älter war. Erst 1977 wurde durch das Pariser IRCAM ein potentes Gegenkonzept zum pragmatischen Konzept des Kölner Studios entwickelt.

Vorgehen in einer 90-Minuten-Einheit: Teil 1 Herbert Eimerts "Einführung in die Elektronische Musik" von 1957: Analytisches Durchhören (Einzelarbeit ca. 30 Minuten). Teil 2. Analyse von Karlheinz Stockhausens Elektronischer "Studie II": Analyse (Vortrag 30 Minuten) und Anwendung von Eimerts Aussagen aus der "Einführung" auf die "Studie II" (Kleingruppen 30 Minuten).

Die gesamte Stunde arbeitet entlang der PowerpointPräsentation Ppt5 (die für den Zweck des Selbstudiums auch mit gesprochenen Kommentaren unterlegt ist). Dort sind auch alle Abbildung zu dem folgenden Text zu sehen.


Eigencharakterisierung der (frühen) Kölner Schule:

 Kompositionstechnische Vorgeschichte:

Spättonale Musik: “die Tonalität kommt an ihre Grenzen” - (Richard Wagner usw.)
→  frei-atonale Musik: Komponieren musikalischer Gesten nach selbst gemachten Struktur-Regeln - (Anton Webern)
→ Zwölftonmusik: Harmonik und Melodik nach einem einheitlichen Reihenprinzip (“Gesetz”), Vermeidung tonaler Schwerpunkte durch Zwölftonreihen), aber die “Form” ist traditionell - Fuge, Themenbildung, Thema/Variation usw. - (Arnold Schönberg)
→ Serielle Musik: Tonhöhe, Klangfarbe, Dauer, Lautstärke, Raumposition, Formverläufe u.a. werden nach einem einheitlichen Gesetz (= “Reihe”) geordnet - (Olivier Messiaen).

Ausstattung des WDR-Studios in den 1950enr:

Herbert Eimerts "Einführung" 1957

Notieren Sie auf Arbeitsblatt 5 Stichworte zu
(1) Aussagen zum Komponieren im allgemeinen und
(2) Aussagen zu den "wichtigsten klanglichen Elemente der Elektronischen Musik":

Ergänzung (als Hausaufgabe): Vergleichen Sie die Neuproduktion der "Einführung" aus dem Jahr 1963, die im Musikverlag "wergo/Schott" als LP erschienen ist, mit der Fassung von 1957 unter der Fragestellung: Wie hat sich die Kölner Elektronische Musik weiter entwickelt? https://www.youtube.com/watch?v=ZuY3EpUQjwY (von Anfang bis 26min:05sec).

Karlheinz Stockhausens "Elektronische Studie II" von 1955

Vorgehen:

Die Studie II verwirklicht die Gleichsetzung “elektronische = serielle Musik” in Reinform. Stockhausen hat eine “Partitur” erstellt, die es ermöglicht, die Studie im Tonstudio nachzubauen. (Dies ist eine Einmaligkeit in der Geschichte der EM.) Allerdings hat er (später) alle “Nachbauten” der Studie entlang den Angaben der Partitur kritisiert.
Das “Original” der Studie (152 Meter geflicktes Tonband) liegt im WDR-Archiv, der Mitschnitt der Ursendung 1955 ist das Mutterband “zum weiteren Gebrauch” (Sendungen, Konzerte), die 1959 erschienene LP (Deutsche Grammophon) ist damit fast identisch:

Der WDR-Tontechniker Volker Müller erstellte 1983 im Auftrag Stockhausens eine geräuschreduzierte digitale Fassung, die auf den CD’s des heutigen Stockhausen-Verlages seither vertrieben wird (= Musik auf https://youtu.be/DgvIli0UWxc).

1. Skalen (= Material für Reihen oder Gruppen)

Demonstration des Tonvorrates und der Tongemische der Studie II:

Youtube-Link

2. Globalbeschreibung

1. Teil

Einzeltongemische

lange Dauern

Linie - kleine Tongemischabstände

2. Teil

„Akkorde“

kurze Dauern

Kompakt - kleine Tongemischabstände

3. Teil

Einzeltongemische

sehr kurze Dauern

Zerklüftet - große Tongemischabstände

4. Teil

„Akkorde“

sehr lange Dauern

weiter Klang - große Tongemischabstände

5. Teil

Elemente aus Teil 1 bis 4 gemischt

3. Partiturseite (im Original schwarz-weiß)


Studie II

Vergrößern Sie dies Video auf HD-Größe (1280x720 pixel)!

Oberer Teil: Tongemische auf „Frequenz-Linien“ (TG 1 gelb, 2 orange, 3 rot, 4 rün, 5 blau). In der Mitte: Dauernangaben in cm Tonband. Unten: Dynamik (Hüllkurven) auf einer dB-Skala.

Zusammenfassung Eimert und Stockhausen

Einzelarbeitsaufgabe: Welche der Kompositionstechniken, die Eimert in der "Einführung" 1957 genannt hat, hat Stockhausen in der "Studie II" verwirklicht? Welche der "klanglichen Elemente", die Eimert genannt hat, hat Stockhausen benutzt und welche nicht? (Antworten auf Arbeitsblatt 5 notieren!)

DOKUMENTE

Eimert in einer WDR-Sendung  8.12.1955:
"Für Hörer, die dieser neuen Klangwelt zum ersten Mal begegnen, füge ich hinzu, dass es sich hier weder um Experimente noch um Klangkulissen handelt, sondern um Musik, die komponiert wurde wie jede andere. Das heißt, jeweils aufgrund einer Partitur, in der Tonhöhen, Tondauern und Lautstärken genau festgelegt sind."

Eimerttext

 Interview mit Stockhausen 1998
https://de-bug.de/mag/haben-sie-techno-erfunden-stockhausen-ja/

Herr Stockhausen, wie sind sie eigentlich auf die Idee gekommen, elektronische Musik zu komponieren?
Karlheinz Stockhausen: Mehrere! Erstens habe ich gegen Ende meiner Studien z. B. Tape-Music von der Columbia University gehört, bei der Cello-Musik mit elektro-akustischen Geräten transformiert worden war. Aus dieser Zeitsituation Anfang der 50er Jahre heraus entstand dann meine Experimentierlust, Klänge synthetisch herzustellen. Ich habe nach dem Staatsexamen auch noch Phonetik in Bonn studiert, weil Prof. Meyer-Eppler dort diese Werke mit synthetischen Klängen vorgestellt hat. Ich habe mir dann neue Klänge von Aufnahmen in Paris selbst hergestellt, weiterverarbeitet, transformiert und in Köln angefangen, mit einfachen Sinusschwingungen Spektren zusammenzubauen. Ich habe reine Töne übereinander kopiert und dadurch neue Klänge komponiert.
In der musikalischen Fachwelt war es die totale Ablehnung. Die haben mich sofort als akustischen Wissenschaftler aus der Musik herausdiskutiert. Es hieß, ich sei kein Musiker, sondern ein Akustiker, ein Ingenieur oder Techniker.
Ich bin Vielen wirklich im Wege. Wenn man das annimmt, was durch meine Arbeit seit 1952 geschehen ist, verlangt das eine unerhörte Revision des Musikdenkens und der Praxis. Ich habe ja auch die meisten Orchestermusiker gegen mich, weil alle Angst haben, ich wolle ihnen ihren Beruf oder ihre Chancen nehmen.

Stockhausen: „Zur Situation des Metiers“ (Paris 1954, abgedruckt in Texte 1, S. 59-60)

Es geht nicht darum, ob es unserer Generation vergönnt sein wird, die groen vollkommenen Werke zu schaffen, sondern darum, ob wir der eigenen historischen Aufgabe mit Verantwortung bewußt sind.
Dem heutigen Denken aber entsprichtdas, was man mit ‚Strukturen‘ meint, und was sich in der totalen Reihenkomposition am deutlichsten manifestiert. In einer ‚Reihestehen ncht irgendwelche verschiedenen Größen beziehungslos  nebeneinander, sondern de einzelnen Größen verhalten sich in Proportionsbeziehungen zueinander. Das heißt: die einzelnen Größen sind jeweils Vielfache einer gemeinsamen kleinsten Einheit, sie sind miteinander verwandt. Wie nun aus einer Reihe ein gesamtes Werk wächst, wie in Gruppenreihen Töne zu Klängen, Klänge zu Klanggruppen. Klanggruppen zu untergeordneten Formteilen, diese wieder zu übergeordneten Formeinheiten und diese endlich zur gesamten Werkeinheit komponiert werden, so daß das ganze Werk die letzte Vergrößerung der ursprünglichen Reihe ist - dieses Problem beschäftigt wohl ur Genüge jeden der Komponisten, die sich dieser Hauptfrage der Komposition im Augenblick stellen.

Björn Gottstein (2006): Mythos Kölner Schule. [Seite des Goetheinstituts] https://www.goethe.de/de/kul/mus/gen/neu/ruc/1579142.html

Der Komponistenkreis, der das Köln der 1950er-Jahre prägte, ist oft als Zentrum der musikalischen Avantgarde mystifiziert worden.
Unter der Leitung von Herbert Eimert und mit dem wachsenden Renommee Karlheinz Stockhausens entwickelte sich das 1951 gegründete WDR-Studio für elektronische Musik zu einem internationalen Treffpunkt. Komponisten wie Ernst Krenek (Österreich/USA), György Ligeti (Ungarn), Franco Evangelisti (Italien), Cornelius Cardew (England), Mauricio Kagel (Argentinien), Nam June Paik (Korea) haben in Köln gelebt und gearbeitet.
Die Schlüsselwerke dieser Jahre stammen nicht von Stockhausen, sondern von Gottfried Michael Koenig, der das Studio als technischer Assistent wie kein anderer beherrschte und der zahlreichen Komponisten bei der Realisation ihrer Stücke assistierte. In seinen so radikalen wie virtuosen Arbeiten, darunter die Klangfiguren II (1955/56), Essay (1957) und Terminus I (1962), kulminieren Sprache und Technik der frühen elektronischen Musik.
Die Auswirkungen der „Kölner Schule“ sind rückblickend auf mehreren Ebenen von Bedeutung. Erstens gilt das WDR-Studio als „Mutter aller Studios". Es wurde zum Modell für vergleichbare Einrichtungen, darunter Bruno Madernas und Luciano Berios Studio di Fonologia in Mailand (Studiogründung 1955) und Jozef Patkowskis Experimentalstudio in Warschau (1957), die ebenfalls mit Sinuston-, Rausch- und Impulsgeneratoren, Bandmaschinen, Filtern und Hallgeräten arbeiteten. Zweitens verhalf Stockhausen, der lange als ihre wichtigste Integrationsfigur galt, der elektronischen Musik zu internationalem Ansehen.

Weitere Aufsätze von Interesse

Herbert Eimert "Was ist Elektronische Musik?" - der erste Aufsatz aus dem Kölner Studio in der Zeitschrift "Melos 1953" (hier)

Wolfgang Martin Stroh: "Zur Dialektik kompositorischer Verfügungsgewalt" - eine kritische Auseinandersetzung mit der "Studie II" aus der Zeitschrift "Archiv für Musikwissenschaft 1973" (hier)

Ralf Kogelheide: "Die Studie II von Karlheinz Stockhausen als Tonbandkomposition" - aufgrund von Archivarbeit neu beleuchtet, aus der Zeitschrift "Archiv für Musikwissenschaft 2016" (hier)