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  Interkulturelle Musikerziehung: Lateinamerika (2002)- Blatt 9

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Ziel der Stunde: Wie kann ein "professioneller" Unterrichtsentwurf aussehen?

Bemerkung 1zum Verständnis des vorliegenden Blattes: Der hier dokumentierte Kurs war zugleich eine Vorbereitung auf Schulpraktika von 6 Wochen Daue. Daher werden abschließend konkrete Vorberetungen auf diese Praktika getroffen.

Bemerkung 2 zum Verständnis der Blätter 1 bis 9: Diese Blätter dokumentieren meinen Anteil am gesamten Kurs. Weitere Stunden mussten von den Studierenden vorbereitet und durchgeführt werden. Es wurden einerseits "Länderportraits" nach dem Muster "Chile" vorgetragen (von Studierenden, die kein Schulpraktikum absolvieren wollten) sowie konkrete Unterrichtsstunden entwickelt und ausprobiert (von Studierenden, die ein Schulpraktikum absolvieren wollten). Insgesmat hatte der Kurs 30 Teilnehmer/innen.

 

Die Unterrichtseinheit
  1. Didaktik: Allgemeine Zielsetzung, Themenwahl
  2. Spezielle Zielsetzung aufgrund des Themas
  3. Sachanalyse: das Thema und seine Bedeutung für die SchülerInnen
  4. Methoden: Schülerorientierung (Einstieg, Schülererwatungen usw.), Handlungsorientierung (Beschreibung von Lernhandlungen und des Produkts), selbstbestimmte Aneignung (Auf- und Verarbeitungsphasen, Reflexion und Auseinandersetzung mit Anderen, Veröffentlichung).
Die Stunde
  1. Zielsetzung: bezüglich Ziele der UE und bezüglich Ziele von Musikunterricht (generell)
  2. Sachanalyse: das Thema und seine Bedeutung
  3. Methoden: der Stunde
  4. Evaluation: Methoden funktionieren? Erreichen der Ziele?

 

Die Unterrichtseinheit

1. Allgemeine Zielsetzung: historischer, konzeptioneller Hintergrund

Pädagogische Konzepte IME

„Trittbrettfahrer"-Konzepte

Ziele

 

1970 Außereuropäische („authentishe") Musik

Musikalische Bildung

„Gegenstand des MU’s ist alle Musik"

1975 Integrative Pädagogik

(kein Musik-Konzept!)

Chancengleichheit, Nicht-Diskriminierung,

Lieder und Tänze aus aller Welt

(Zielgruppe: Ausländer)

„Assimilation" (in den 70er Jahren)

Basiskompetenz (seit 2000)

 

1981 „Globale Musik" (Popmusikdidaktik) „Jugendmusik ist globale Musik"

(Zielgruppe: alle) Aktive Aneignung aktueller Musikkultur

Dialektik von Kommerz und Selbstverwirklichung

1983 Interkulturelle ME

(im engeren Sinne)

„Pluralismuskonzepte",

für Klassen mit Ausländerkindern.

 

soziale Kommunikation

Toleranz (sozial), Verständigung,, Begegnung

  1985 „Das Fremde"

Musikalische Bildung

Toleranz (musikalisch-kulturell), Offenheit

1990 Anti-rassistische ME

Hauptziel ist politische Bildung,

politische Umdeutung der Grundziele der IME (s.o.).

1987 Friedenserziehung

1995 „Musik der Welt"

Toleranz (politisch), Aufklärung (z.B. gegenüber Vorurteilen)

siehe „Globale Musik

Nischen und multikulturelle Musikkonzepte

1995 Transkulturelle ME

Lernen mit fremder Musik.

 

Selbsterfahrung

„transkulturelle Basiserfahrungen"

1999 Multikulturelle ME

„multikulturelle Identität",

konstruktivistische Pädagogik.

 

2fache Handlungskompetenz

„Im eigenen Interesse das Richtige finden können"

Allgemeine Ziele und Inhalte: aktuelle Formulierung

Ziele allgemeine multikulturelle Handlungskompetenz für ein Leben

in der BRD und

in der globalisierten Welt von morgen.

  musik-spezifische Lernen, wie Musik funktioniert

in einer Gesellschaft („Funktion von Musik") und

immanent („Herstellungsweise von Wirkungen").

   
Inhalte

Die wirklichen Musikkulturen der Welt (nicht allein Folklore oder Authentisches),

 

die wirkliche Musikkultur der BRD (nicht allein die herrschende U- und E-Musik),

 

die (medial, kommerziell vermittelten) Erscheinungsweisen der Musik der Welt in der BRD (die virtuellen Musikkulturen der Welt).


 

2. Themenwahl: „Musik Lateinamerikas" und spezielle Zielsetzung

Leben in der multikulturellen BRD:

Quantitativ: Keine Legitimation vom Umfang der in der BRD lebenden LateinamerikanerInnen.

Qualitativ: Die Gründe für die Migration in die BRD sind typisch (politische und ökonomische). Die Länder Lateinamerikas sind multikulturelle Gesellschaften. Das multikulturelle Leben ist dort sehr produktiv.

Leben in der globalisierten Welt von morgen:

Der „Zustand" Lateinamerikas ist prototypisch für alle aktuellen Globalisierungsprobleme. (1) Übernahme des Kolonialismus durch Imperialismus - meist in der Reihenfolge: Militärdiktaturen, Schuldenkrise, Neoliberalismus, Schere Arm-Reich (z.B. Straßenkinder). In Lateinamerika werden zahlreiche Billigprodukte hergestellt, die bei uns zu kaufen sind. Die Musik(kultur) Lateinamerikas prägt stark den internationalen kommerziellen Musikmarkt.

Lernen, wie Musik funktioniert:

An den verschiedenen lateinamerikanischen Ländern kann man erfahren: (1) wie musikalisch-produktiv multikulturelle Gesellschaften sind (Kuba, Brasilien, Argentinien etc.); (2) wie gesellschaftliche Konflikte sich musikalisch ausdrücken; (3) wie Kommerzialisierung und musikbezogene Globalisierung funktioniert. An den zahlreichen musikalischen Stilen Lateinamerikas kann man erfahren, was (1) körperbetonte, (2) rhythmusbetonte und (3) funktionale Musik (sowohl indianisch-spirituelle als auch karnevalistische Samba-Musik) bedeutet.


 

3. Die Sachstruktur und ihre Bedeutung für die SchülerInnen

Die „multikulturelle Grundstruktur" Lateinamerikas und unsere Kenntnis davon:

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Musikalische Tätigkeit als widersprüchliche Aneignung sozialer Wirklichkeit: Musik ist nicht nur „anklagender Ausdruck" einer schlechten Lage, sondern auch Hoffnung, Lebenselixier, Utopie und „Sinn". (Dies ist mehr als „Vergessen", Besänftigung oder Verdrängen.)

 

Ausdruck dieser Lage (Festhalten an Traditionen,

Protestlied)

 

soziale Lage

 

musikalische Aneignung der sozialen Lage

 

Ausdruck von Hoffnung und Utopie (Lebenskraft und -freude, Hoffnung auf den internationalen „Durchbruch")

 

Der widersprüchliche Bezug lateinamerikanischer Musik zur internationalen (meist nicht-lateinamerikanischen) Musikindustrie: Wir erleben (solange wir nicht hinfahren oder mit Latinos, die in Deutschland leben, Kontakte haben) die Musik Lateinamerikas als musikindustrielles Phänomen. Das reicht von scheinbar „authentischen" Fernsehberichten, Büchern und Tonaufnahmen über „Weltmusik", die in Lateinamerika entstanden ist, bis hin zu im Ausland entstandenen Kreationen wie Salsa. Die undialektisch-wertende Gegenüberstellung von „authentisch" und „kommerziell" ist zu revidieren!


 

4. Allgemeine Methode: der erweiterte Schnittstellenansatz

Zuerst sinnliche „Basiserfahrungen" als Schnittstelle, sodann

erfahrungsbezogene und exemplarische Erarbeitung der Funktion von Musik in den wirklichen Musikkulturen der Welt. Ideale Methode: szenisches Spiel. Hier erfahren die SchülerInnen das Fremde „im Schutze der Rolle" und in Rollen konkret handelnd, dabei werden

die musikalischen Basiserfahrungen zur „Rekonstruktion" von Musikstücken (= Nachspielen von Musik in der Art eines laienhaften Rollenspiels) eingesetzt. Anschließend erfolgt

der Transfer des Erlebten in die BRD (Erscheinungsweise der Musik bei uns) und in die Globalisierung (Ergründen der Ursachen für diese Erscheinungsweise) im Sinne einer Verarbeitung der Erlebnisse zu „Erfahrungen".

Basiserfahrung: das Wesentliche eines Musikstils und einer musikkulturellen Lebensweise wird erarbeitet (Rhythmuskreis, spezifische Patterns, Gehen und Bewegen zu Musik, improvisierendes Singen, Handhaben einfachster Instrumente, Call and Response), keine zeitliche Gliederung („Endlosprinzip").

Szenisches Spiel und/oder Rekonstruktion von Musikstücken: Erarbeitung von Situationen; Hören/Ansehen von ganzen Musikstücken mit formaler Gliederung, Texten, Arbeitsteilung der MusikerInnen. Nachhvollziehen spezifischer Darstellungsformen (Tanzschritte, Formation der Musikgruppe, Anleiter-Angeleitete) sowie Nachspielen/Singen (Sing- und Spielhaltungen).

Transfer: Info-Material bearbeiten, möglichst wieder szenisch spielend, hören charakteristischer Musiktitel, Geschichten bearbeiten, Musikinstrumente kennen lernen, „Problemfilme" usw. Erkundungen vor Ort: Karneval, Sambavereine, „Brasilien, Fußball und Musik".

Schülerorientierung auf allen 3 Ebenen: Lehreranregungen und -vorgaben motivieren und bilden einen formalen (schützenden) Rahmen, in dem SchülerInnen Erfahrungen machen und mitteilen können.

Handlungsorientierung und selbstbestimmte Aneignung: die drei Phasen Vorbereitung-Erarbeitung-Auswertung bzw. Aneignung-Verarbeitung-Veröffentlichung sind nicht mit den drei Ebenen Basiserfahrung-Szenisches Spiel/Rekonstruktion-Transfer identisch. Basiserfahrungen sind Teil der ersten Phase. Szenisches Spiel und Rekonstruktionen enthalten alle 3 Phasen. Transfer spielt sich weitgehend in der 2. und 3.Phase ab.


 

Die einzelne Unterrichtsstunde

1. Stellenwert der Unterrichtsstunde innerhalb der Unterrichtseinheit.

2. Spezielle Ziele der Stunde (Teile der allgemeinen Ziele), aufgeteilt in

  • spezielle Ziele bezogen auf das aktuelle Thema (z.B. die soziale und kulturelle Bedeutung von Samba-Vereinen erkennen) und
  • allgemeine Ziele von Musikunterricht (z.B. Musik in ihrer Funktion erkennen).

3. Das Thema der Stunde und die Sachanalyse bezogen auf

  • die Frage, warum das Thema bezüglich der o.g. Ziele geeignet ist, und
  • die Methode.

4. Die Methode(n) unter den Aspekten:

  • inwieweit sie sich aus der Sachanalyse ergeben,
  • inwieweit sie den Anforderungen der allgemeinen Methodik des erweiterten Schnittstellenansatzes genügen,
  • inwieweit sie der jeweiligen Lerngruppe (Alter, Vorkenntnisse etc.) angemessen sind,
  • inwieweit sie „materiell" durchführbar sind.

5. Die (Ablaufs-)Planung (Spickzettel).

6. Evaluation

  • Beobachtung des Geschehens: Selbstbeobachtung ("Tagebuch"). Fremdbeobachtung (aufgrund gezielter Fragestellungen, Aufgaben, Blickwinkel).
  • Analyse von Ergebnissen bzw. deren medialer Reproduktion (Tonaufnahme, Videomitschnitt).

„Klassische Probleme" der Didaktik

(1) Reihenfolge, Rangordnung oder Wechselwirkung von „Sachanalyse" und „didaktischer Analyse".

  Probleme:
Sachstruktur  --- Lernziele Was legitimiert die Themenwahl?

Ist ein Lernziel allein aus der Sache heraus ableitbar?

Lernziele ---Sachauswahl Ist das Thema beliebig und Mittel zum Zweck?

Warum also gerade dies Thema?

Woher kommen die Lernziele, wenn nicht aus der Sache?

Zwischen Sach- und didaktischer Analyse besteht eine Wechselwirkung. Diese Wechselwirkung ist auflösbar durch eine (mehrfache) Schrittfolge, zum Beispiel:

Allgemeine Zielsetzung -- Themenwahl -- themenbezogene Zielsetzung --...

( Sachanalyse Methodenwahl etc.)

Zwischen Sach- und didaktischer Analyse und Methodenwahl besteht wiederum eine derartige Wechselwirkung.

(2) Welches ist der Bezugspunkt „außerhalb" des Zirkels von Sach- und didaktischer Analyse?

Rahmenrichtlinien bzw. Stoffpläne Sind eine „letzte Hilfe", wenn man nicht mehr nachdenken will oder kann oder soll (Referendariat, Schulalltag, Dezernentenbesuch)
Allgemeine Konzept-Forderungen Beispiel: interkulturelle Musikerziehung
Allgemeine bildungspolitische Forderungen Beispiel: „Deutschland muß im internationalen Ranking weiter nach vorne!" „Schule soll Gewaltprävention betreiben!" „Schule soll qualifizieren!" „Schule soll sozialisieren!" „Schule soll ein (alternativer) Lebensraum sein!"

Unsere „Konzept-Forderungen" (Ziele der IME) wurde historisch abgeleitet und somit in die Entwicklung allgemeiner bildungspolitischer Forderungen an Schule eingebettet. Insofern haben wir den 2. und 3. Aspekt miteinander verbunden.

(3) Evaluation: Ablauf und Zielsetzung

Die einfachste Formen der Evaluation bezieht sich darauf, ob der konkrete äußere Ablauf einer Unterrichtstsunde oder Einheit sich so wie geplant zugetragen hat. Ob aber die Konstruktion Ziele-Thema-Methoden „richtig" war und ob gar die Ziele erreicht wurden, ist schwieriger evaluierbar. Im Zentrum steht die Frage, ob überprüft werden kann, wie Ziele erreicht wurden.

Handlungsziele sind evaluierbar: Jede Handlung hat ein Ziel. Das Ergebnis der Handlung zeugt, ob das Handlungsziel erreicht wurde.

Alle übrigen Ziele müssen, um evaluierbar zu sein, operationalisiert werden:

  • entweder Auflösung des Ziels in Handlungsziele (Ò Weglassen aller nicht in Handlungsziele von SchülerIn und LehrerIn auflösbaren Formulierungen),
  • oder „Symptom-Interpretation" (Ò übliches Verfahren bezüglich Zielen aus Sonntagsreden, dabei wäre der „äußere Ablauf" ebenso ein Symptom wie empirisch erhobene Daten).