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Hintergrund und kulturpolitischer Stellenwert des Projekts

Das Forschungsprojekt geht davon aus, daß die Bundesrepublik Deutschland eine multikulturelle Gesellschaft ist und dieser Prozeß nicht rückgängig gemacht werden kann. Bezogen auf Musik und Musikausbildung muß allerdings festgestellt werden, daß die Bundesrepublik eine noch denkbar schlechte multikulturelle Gesellschaft ist, deren kulturell unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen weder in die Multikulturalität gleichwertig „integriert", noch mit dem Recht auf kulturelle Selbstverwirklichung ausgestattet sind:

(1) In einer Pilotstudie, die von Jochen Fried und Marianne Koch Anfang 1999 durchgeführt worden ist, hat sich gezeigt, daß die Musik und Musikkultur der in der Bundesrepublik Deutschland lebenden Ausländer/innen in den „offiziellen" Medien kaum vertreten und von „offiziellen" Institutionen nicht repräsentiert bzw. gefördert wird. Die Betroffenen sind sich der Problematik dabei durchaus bewußt und beklagen die eigene Konzeptionslosigkeit. Im einzelnen:

(2) „Multikulturelle musikbezogene Konzepte" sind durchaus vorhanden. So kann beispielsweise auf das Nordrheinwestfälische Großprojekt „Rüzgargülü - Windrose", kann auf die Aktivitäten im Umfeld des seit 1996 durchgeführten Berliner „Karnevals der Kulturen", die inzwischen einer Programmreform geopferte Sendereihe „Musikpassagen" des WDR 5 von Werner Fuhr usw. hingewiesen werden. Diese Konzepte scheinen aber nicht ohne weiteres in den Alltag musikbezogen arbeitender Institutionen hinein übertragbar zu sein, weil sie recht speziellen Situationen (sei’s denjenigen des Ruhrgebiets oder der Berlins nach 1991) entstammen.

(3) Die workshop-Szene, insbesondere das reichhaltige musikbezogene Angebot von „freien" Institutionen wie der Düsseldorfer „Werkstatt", Karlsruher „Wirkstatt", Münchens „Freies Musikzentrum" organisiert sich überwiegend an den („alternativen") deutschen Mitbürger/innen und bezieht nur sehr vereinzelt Angebote mit der Zielgruppe „Ausländer/innen" mit ein. So ist die türkisch-arabische Musikkultur durch Derwischtanz, Sufi-Meditationen und Bauchtanz, nicht jedoch durch Saz-Gruppen oder die Pflege der in der Türkei unter Strafe gestellten kurdischen Musik vertreten.

(4) Die „interkulturelle Musikerziehung" für allgemeinbildende Schulen wird in relativ engen Fachkreisen seit 20 Jahren intensiv diskutiert. An zahlreichen Schulen werden Unterrichtseinheiten zur „Integration ausländischer Schüler/innen" erprobt. In fast allen neueren Schulbüchern gibt es 2 bis 4 Seiten über „Musik der Welt" und „Lieder aus aller Welt" sind ebenfalls sehr beliebt. Brauchbares Material liegt zur Musik in der Türkei und ansatzweise zur bi- bzw. multikulturellen Situation türkischer Menschen, die in Deutschland leben, vor. Mit wenigen Ausnahmen orientieren sich die Materialien zur interkulturellen Musikerziehung an einem folkloristischen und musikethnologischen Vorstellung von Musik. Große Unsicherheit besteht vor allem angesichts der Frage, wie mit „oralen" Kulturen musikpädagogisch umzugehen ist und welchen Stellenwert im Rahmen einer interkulturellen Musikerziehung die herkömmliche „abendländische Kunstmusik" mit ihrer Theorie haben soll. Dies gilt nicht nur für „ausländische", sondern auch für andere Teilkulturen wie beispielsweise Techno, HipHop-Rap, Afrorock.

(5) Die professionelle Ausbildung im Bereich „interkultureller Musikerziehung" steht ganz am Anfang. Die Diskussion ist weitgehend theoretisch. In der musikpraktischen Ausbildung beschränken sich einzelne Hochschulen auf workshops oder Wahlangebote. Konzepte für eine feste curriculare Verankerung interkultureller Inhalte gibt es kaum. Auch hier liegt der Griff zur Vergleichenden Musikwissenschaft, Volkskunde und Musikethnologie näher als die gegenwartsbezogene Reflexion der multikulturellen Situation in Deutschland bzw. Mitteleuropa. Das Hauptproblem der Hochschulen ist, daß bei den bereits überlasteten Lehrplänen interkulturelle Inhalte nicht zusätzlich, sondern alternativ angeboten werden müssen. Aber, was soll dafür geopfert werden? Angesichts dieser Situation erscheint es kulturpolitisch notwendig, daß

Erfahrungen aus traditionellen multikulturellen Gesellschaften, vor allem den USA, haben gezeigt, daß mittelfristige curriculare Planungen offen sein müssen, da die Migrationssituation sich laufend ändert. Auch regionale Unterschiede des „ethnic mix" verbieten eine allzu enge und pragmatische Orientierung der curricularen Grundsatzentscheidungen. Es hat sich weltweit die Meinung durchgesetzt, daß Konzepte multikulturellen Musiklernens sich nicht unmittelbar an den „aktuell vorhandenen Migrantengruppen" ausrichten dürfen, sondern eine allgemeinere Ebene beziehen müssen, von der aus die konkreten „Migranten-Kulturen" betrachtet werden können. So ist auch in der Bundesrepublik Deutschland das traditionelle Konzept interkultureller Musikerziehung, das sich die „musikalische Kommunikation" innerhalb einer „kulturell gemischten Klasse" zum Ziel gesetzt hatte, heute weitgehend ersetzt durch das Konzept einer allgemeinen „multikulturellen musikalischen Bildung", die vom konkreten „ethnic mix" einer Klasse oder Schule unabhängig ist.Als Antwort auf die skizzierte kulturpolitische Notwendigkeit sollen daher im vorliegenden Forschungsprojekt curriculare Bausteine einer grundlegenden, elementaren „multikulturellen musikalischen Bildung" entwickelt, erprobt und evaluiert werden. Es soll sich dabei um eine „Eine Welt Musik Lehre" handeln, deren Benutzung den Lernenden grundlegende multikulturelle musikalische Lernerfahrungen ermöglichen. Die Einsatzfelder dieser „eine welt musik lehre" sind:

Stand 2011