"Schulung": Marxistische Musiksoziologie - ein Text von 1975
Seiten 16 bis 38 aus Wolfgang Martin Stroh: "Zur Soziologie der
elektronischen Musik", Amadeus-Verlag, Zürich 1975.
Das erste
Kapitel der "Zur Soziologie der elektronischen Musik" enthält eine allgemeine
Abhandlung über den Warencharakter von Musik und Musikproduktion. Dabei wird die
Kategorie "Ware" losgelöst vom Kommerziellen und als "prinzipiell
bürgerliche Kategorie" mit den Phänomenen "Kunstwerk",
"Komponist", "Fortschritt" und "Musikkritik" in Verbindung
gebracht. Der Text entstand in Seminaren zur Musiksoziologie am Musikwissenschaftlichen
Institut Freiburg 1972 bis 1973. Das Buch fand im
angloamerikanischen Raum und in der Schweiz ein freundliches Echo, blieb in der BRD
weitgehend unbekannt. Aus Rezensionen:
It is a magnificent - albeit
problematic - book. That is, I suppose I should say that it is the field that is
problematic and one must be grateful for the courage of a Stroh to undertake what he has
done, for many will loathe him for it.
Stroh offers conviction, not
dogma, and his book should be of provocative value even to the reader who disagrees
with him totally.
Druckfehler tun dem Buch
insofern keinen Abbruch, als die bürgerliche Musiksoziologie den Beweis anzutreten hat,
dass sie zu einer ebenso überzeugenden Analyse auf dem Gebiet der elektronischen Musik
oder der Musik in einem allgemeinen Sinne fähig ist.
The intense concentration
of the material in the book calls for slow and careful - indeed, even repeated -
reading...
HINWEIS:
Im März 2014 ist in der Zeitschrift "
Z. Zeitschrift Marxistische Erneuerung, Nr. 97" ein Aufsatz von mir erschienen, in dem ich einleitend sagte: "
Es soll bei dieser Erörterung deutlich werden, dass der ökonomische und politische Marxismus einer
psychologischen Weiterentwicklung bedarf, um heute relevant zu sein." Ich empfehle als Ergänzung zum
vorliegenden Text also die Lektüre des Textes von 2014! "Musik zwischen Dienstleistung und Ware oder: Zur Kritik des Geistigen Eigentums"
Zur Soziologie im allgemeinen
oder: Wie man fragen muss, damit der Marxismus antwortet
Von einer musikwissenschaftlichen Abhandlung wie der
vorliegenden erwartet der Leser, dass sie gewisse musikalische Erscheinungen erkläre.
Dabei gibt es verschiedene Ebenen, auf denen eine Erklärung als hinreichend empfunden
werden kann, und die Frage, auf welcher Ebene sich der Leser zufrieden gibt, scheint
zunächst ein Problem subjektiver Art und nicht weiter wissenschaftlicher Untersuchung
zugänglich, allenfalls das Ergebnis einer historisch bedingten und möglicherweise
unbewussten Abmachung (Konvention) zu sein.
Diesem Schein korrespondiert innerhalb der Soziologie ein
Methodenpluralismus, der vorgibt, jede Meinung in gleicher Weise gelten zu lassen und
damit im Prinzip nicht nur jeden Ansatz für richtig und keinen für falsch anzusehen,
sondern auch alle Ebenen der Erklärung als gleichermaßen relevant darzustellen. Die
Folge ist ein relativ wahlloses empirisches Forschen, dessen Wissenschaftlichkeit und
Exaktheit oft nur an dem richtig eingesetzten Zähl- und Messverfahren statistischer,
informationstheoretischer oder kybernetischer Art gemessen wird und dessen Funktion daher
die Reproduktion und Bestätigung des jeweils Gegebenen ist.
Im Falle der Musiksoziologie sind aber sogar derartige
Methoden noch Einschränkungen unterworfen. Überblickt man die Artikel in
deutschsprachigen Zeitschriften, in denen auf irgendeine Weise musiksoziologisch
argumentiert wird, so kann zwar der Eindruck entstehen, auch hier liege eine vielfältige
und breit gestreute Diskussion vor. Eine thematische Aufarbeitung der heutigen
musiksoziologischen Literatur ergibt jedoch, dass die Diskussion um wenige inhaltliche
Punkte zentriert und somit die formale Diskussionsbreite Erscheinungsform einer hilflosen
inhaltlichen Einseitigkeit ist. Dabei darf nicht täuschen, dass dieser Diskussion eine
gewisse Beliebigkeit anzuhaben und ein innerer Zusammenhalt zu fehlen scheint und das
Urteil, es handle sich bei all dem um eine Mode, die eines Tages wieder vorüber sein
werde (wenn zum Beispiel die Musiker wieder fleißiger üben würden), nahe liegt.
Gerade die Inhalte des Pluralismus zeigen jedoch, dass das
Interesse an Musiksoziologie keineswegs eine beliebige Mode darstellt, sondern eine
bestimmte und bestimmbare historische Situation gesellschaftlichen Bewusstseins zum
Ausdruck bringt. Schlagwortartig läßt sich diese Situation dadurch charakterisieren,
dass die Mehrzahl der musiksoziologischen Untersuchungen mehr oder minder deutlich eine
Auseinandersetzung mit zwei Problemkreisen darstellt, nämlich
mit der Verunsicherung herkömmlicher
musikwissenschaftlicher Tätigkeit angesichts der politischen und ideologischen Diskussion
um Marxismus und dialektischen Materialismus im universitären Bereich, der bei dem
gebrochenen Verhältnis zwischen heutiger musikalischer Reflexion und Praxis der einzige
Ort für Methodendiskussion ist, und
mit dem rasch fortschreitenden Zusammenbruch des
herkömmlichen Verständnisses von Musik, angesichts der vom einzelnen Musiker schwer
durchschaubaren Macht des heutigen Musikbetriebes, angesichts der Rolle, die gute und
ernste Musik in ihm spielt, angesichts der täglichen Probleme, denen ein Musikpädagoge
gegenübersteht und die er während seines Studiums verdrängt hat, und nicht zuletzt
angesichts der Diskrepanz zwischen technologischer Machtfülle und der subjektiven
Schwierigkeit, "Ideen" zu bekommen, im Falle elektronischen Komponierens.
Neben der Methodendiskussion der heutigen Musiksoziologie
treten inhaltliche ("konkrete") musiksoziologische Untersuchungen stark in den
Hintergrund. Entweder handelt es sich bei letzteren um Umfragen und deren Auswertung, die
Musiklehrer ohne viel Überlegung mit ihren Schülern ausführen, um den Musikunterricht
über die Runden zu bringen - das Buch Musik aktuell und zahlreiche Artikel
in der Zeitschrift Musik und Bildung spiegeln diese Situation wider. Oder die
inhaltlichen Aussagen fungieren als isolierte Beispiele einer methodisch-theoretischen
Ausführung, beschränken sich dann meist auf habituelle Beobachtungen, die weitgehend
unverbindlich bleiben und subjektiven Vorurteilen beliebig großen Raum lassen - das
"klassische" Beispiel hierfür dürfte Th. W. Adornos Musiksoziologie und
anderes musiksoziologisches Schrifttum sein. Schließlich aber bleibt der größte Teil
"konkreter" musiksoziologischer Untersuchungen in privater Hand, ohne an die
Öffentlichkeit zu gelangen - so vor allem der ganze Komplex der Marktforschung
("Bedarfsforschung").
Die musiksoziologische Diskussion, die sich heute im
wesentlichen um Systeme, Konzepte, den "Gegenstand musiksoziologischer
Erkenntnis", um Schulen und Methoden dreht, verdeckt zweierlei:
dass es wenig bewusste, inhaltliche Fragestellungen und im
allgemeinen keine den diversen Methoden zugrunde liegende Theorie der Gesellschaft und der
Musik in ihr gibt,
dass dennoch die ganze Methoden-Diskussion insgesamt
inhaltlich durch ihre gesellschaftliche Funktion determiniert ist.
Die Suche nach der allgemeinen soziologischen
Fragestellung als Hinführung zur Erörterung einer allgemeinen soziologischen Methode
wird in diesem Sinne kein "Beitrag" zum heutigen Methodenpluralismus, sondern
die Aufforderung sein, inhaltliche Fragestellungen auf dem Hintergrund einer Theorie der
Gesellschaft zu entwickeln, die nicht notwendig die gesellschaftliche Funktion der
heutigen musiksoziologischen Diskussion erfüllen.
Den Stellenwert, die Notwendigkeit und die Möglichkeit
einer solchen Fragestellung soll ein Beispiel erläutern. Die verschiedenen Ebenen, von
denen aus musikalische Sachverhalte erklärt werden, können jeweils benannt und daher als
Ebenen erkannt, Frage und Antwort in ihrer jeweiligen Relativität und begrenzten
Zirkelschlüssigkeit durchschaut und das Bedürfnis, den ganzen Sachverhalt von einem
neuen Standpunkt aus als Ganzes zu erfassen, geweckt werden. So kann auf die Frage, warum
ein elektronisches Stück (wir denken konkret jetzt etwa an Stockhausens Elektronische
Studie II) auf eine gewisse Weise beginnt, geantwortet werden:
weil der Toningenieur 5 Sinusschwingungen in einem
bestimmten Verhältnis gemischt hat - diese Antwort befindet sich auf einer
technologischen Ebene;
weil der Komponist gemäß einer Werkidee, die durch eine
umfassende Fünferordnung repräsentiert ist, am Anfang des Stücks das vorliegende
programmatische Fünfergemisch geeignet gefunden hat - diese Antwort befindet sich auf
einer kompositionsanalytischen Ebene;
weil die Werkidee einer gewissen musikalischen
Vorstellung, fundiert durch die serielle Technik, verwirklicht durch elektronische Mittel,
entspricht und sich auf diese Weise darstellen last - diese Antwort befindet sich auf
einer quasi ästhetischen Ebene;
weil in einer gewissen historischen Situation totale
Determination auch des Klang-Parameters als notwendig, fortschrittlich und sinntragend
scheint - diese Antwort befindet sich auf einer historischen Ebene;
weil eine bestimmte gesellschaftliche Funktion von Kunst
von gewissen Arten Musik Fortschrittlichkeit verlangt, die unter den vorliegenden
Bedingungen in der vorliegenden Weise verwirklicht zu sein scheint - diese Antwort
befindet sich auf einer ideologie- oder gesellschaftskritischen Ebene;
weil es im bügerlichen Musikbetrieb zwei Bereiche der
Musik, die U- und E-Musik, gibt und die E-Musik von Wenigen produziert und von Wenigen
gehört wird, also auch anspruchsvoller und ausgestalteter sein kann - diese Antwort ruht
auf Argumenten einer empirisch-soziologischen Ebene;
weil Musik in einer arbeitsteiligen Gesellschaft
arbeitsteilig hergestellt und realisiert wird, und der Komponist dem Techniker, Hörer und
Nicht-Hörer entfremdet ist - diese Antwort macht sich Gedankengänge einer
ökonomistischen Ebene zunutze;
weil ein Teil der Bevölkerung (das Proletariat) dank
eines historischen Stands der Produktion so viele Werte produziert, dass innerhalb eines
bestimmten ökonomischen Systems ein anderer, kleinerer und privilegierter Teil einen
Anteil dieser Werte abzweigen, in elektronische Studios stecken und zur Grundlage der
LebensTätigkeit einzelner Komponisten machen kann - diese Antwort befindet sich auf einer
(sozio-)ökonomischen Ebene.
Eine wissenschaftliche und allgemein hinreichende
Erklärung musikalischer Sachverhalte ist auf keiner der hier beispielhaft angegebenen
Ebenen möglich, wenn diese von einer weiteren Ebene aus wieder hinterfragt werden kann.
Hinzu kommt die Schwierigkeit, dass es sicherlich beliebig viele mögliche Erklärungen
gibt: man könnte im angeführten Beispiel auch nach dem Magnetpulver auf dem
Magnettonband, nach gewissen Umständen im Kölner Elektronischen Studio, nach
persönlichen Umständen des Komponisten, nach spezifischen Charakteristika des
Kulturbetriebs usw. fragen und entsprechend antworten. Wenn es beliebig viele Ebenen der
Erklärung gibt, so ist die Aufgabe, Kategorien zu finden, die alle möglichen Ebenen
umfassen und das ganze Gefüge von Erklärungen als eine Totalität und Einheit erscheinen
lassen.
Die allgemeine soziologische Frage erscheint in
diesem Zusammenhang als die Frage nach einer Theorie der Gesellschaft, die jene Kategorien
bereitstellt und deren methodische Konsequenzen eine einheitliche Erklärung des gesamten,
vielschichtigen Bedingungszusammenhangs musikalischer Erscheinungen in unserer
Gesellschaft ermöglicht. Was somit unter dem Namen "Soziologie" zusammengefasst
werden soll, ist die geforderte Theorie zur Aufarbeitung des gesamten Gefüges möglicher
Erklärungs-Ebenen und deren gegenstandsbezogene Anwendung. Sämtliche technologischen,
ästhetischen, historischen oder kompositionsanalytischen Einzelaspekte müssen zur
Sprache kommen, jeweils jedoch in einen Zusammenhang eingebettet und nach ihrer Bedeutung,
die dann außerhalb ihrer selbst liegt, befragt. Die besondere Rolle, die
technologische Erscheinungen bei der historischen Entwicklung elektronischer Musik
gespielt haben, erfordert es, im folgenden theoretischen Entwurf vor allem auch die
Bedeutung der Technik und aller damit zusammenhängenden soziologischen Fragen und
Faktoren in einem für musikwissenschaftliche Abhandlungen ungewöhnlichen Ausmaß auszufahren. Dieser Umstand macht die elektronische Musik als Thema einer soziologischen
Untersuchung im umfassenden Sinn besonders geeignet.
Zur Methode der Musiksoziologie
oder: so viele Selbstverständlichkeiten, dass man
sie fast immer vergisst
Soziologie, wie sie in dem geforderten Sinn verstanden
werden muss, ist notwendig verknüpft mit einem historischen Ansatz. Historisch und nicht
formal muss Soziologie schon aufgrund der Forderung von Wissenschaftlichkeit
(Überprüfbarkeit und Objektivität) sein. Denn das Material der Soziologie sind
historisch wirklich vorhandene Gesellschaften, deren Verhältnisse, weil sie sich ständig
ändern, auch nur in einer Analyse ihrer spezifischen Art von Veränderbarkeit erkannt
werden können. Schon die Grundtatsachen des Phänomens "Gesellschaft" sind kaum
anders als aus historischer Perspektive zu fassen:
Von Gesellschaft kann erst dann gesprochen werden, wenn
Menschen nicht je für sich leben, arbeiten und produzieren wie eine Ansammlung von
Robinsone auf ebensoviel Inseln wie es Menschen insgesamt gibt. Gesellschaft bildet sich
durch das Zusammenleben und Zusammenwirken von Menschen bzw. menschlichen Tätigkeiten.
Den Kern dieses Zusammenwirkens bildet eine mehr oder weniger abgesprochene und
organisierte Produktion und Verteilung der Lebensmittel (Nahrung, Kleidung, Wohnung,
Arznei usw.) und der zur Produktion notwendigen Geräte, eine Teilung der Arbeit gemäß
geographischen, biologischen und solchen Umständen, die durch ungleich entwickelte
Produktivkräfte hervorgerufen sind. Gesellschaftliches Zusammenleben beginnt also in dem
Augenblick, in dem Menschen füreinander nützliche Tätigkeiten verrichten. Bald kann
diese Verrichtung nicht mehr bloß spontan ohne irgendwelche Art bewusster Organisation
vonstatten gehen. Hier unterscheidet sich der Mensch vom Tier, indem er planend und mit
Bewußtsein Organisationsformen nicht nur für das gegenseitig nützliche Tätigsein,
sondern auch zur optimalen Bewältigung von Sachzwängen entwickelt. Es entstehen
zunächst ökonomische, dann bald juristische, politische, pädagogische, religiöse,
kulturelle und ähnliche Organisationsformen, "Einrichtungen".
Hieraus folgt die Grundtatsache des historischen
Materialismus, dass alle Institutionen und Einrichtungen, die eine Gesellschaft an der
Oberfläche auszumachen scheinen, Ausdruck und Organisationsform irgendwelchen in letzter
Instanz bestimmenden historischen Produktionsverhältnisse sind. Wissenschaftliche
Soziologie baut immer in irgendeiner Weise auf dieser Tatsache auf und macht sie zum
Gegenstand ihres Interesses. So sind beispielsweise Eigentums Verhältnisse ein
juristischer, die Einrichtungen des Staats- oder Herrschaftsapparates ein politischer
Aspekt der jeweiligen Produktionsverhältnisse. Diesem juristischen und politischen
Überbau entsprechen bestimmte Bewußtseinsformen, Ideologien wie Religion oder Kunst,
zugehörige Institutionen wie Kirche oder Kulturbetrieb und entsprechende
Wissenschaften wie Theologie oder Musiktheorie, deren Inhalte und Funktionen noch von den
historischen Interessen und Arbeitsmöglichkeiten der jeweiligen Träger
abhängen.
Entscheidend für die Soziologie auf der Grundlage der
eben skizzierten elementarsten Tatsachen ist nicht, dass alles auf
Produktionsverhältnisse zugeschnitten wird, dass ideologische Faktoren geleugnet oder in
ihrer Bedeutung unterschätzt würden. Entscheidend ist vielmehr, dass die objektive
historische Wirklichkeit eine sehr einfache Möglichkeit an die Hand gibt, zwischen
Oberflächenerscheinungen und fungierenden Tatsachen, Ursachen in letzter Instanz, zu
unterscheiden, wenn man sich bei deren Deutung der historisch-materialistischen Methode
bedient.
Obgleich diese Unterscheidung zunächst relativ grob zu
sein scheint, ist sie doch von fundamentaler Bedeutung: zunächst besagt sie, dass nicht
der Kopf des Menschen, sondern seine soziale Tätigkeit die Quelle menschlichen
Bewusstseins ist. Dann bedeutet sie, dass trotz der stark erweiterten, bewussten
Einwirkung des Menschen auf die Umwelt der Mensch nicht "schöpferisch" (im
strengen Sinn) sein kann oder, anders ausgedruckt, dass auch die Produktion von Kunst
Bedingungen unterliegt und nur in dem Maße "frei" sein wird, wie der Künstler
diese Bedingungen kennt und beherrscht. Schließlich ist sie aber auch erst die
inhaltliche Legitimation für die Forderung nach einer "Soziologie" im Sinne des
vorigen Teils als einer umfassenden Theorie zur einheitlichen Erklärung des
vielschichtigen Bedingungszusammenhangs musikalischer Erscheinungen: denn indem die
historisch-materialistische Sicht möglich und notwendig macht, musikalische Erscheinungen
nicht nur innermusikalisch aufeinander zu beziehen, zeigt sie zugleich, dass der
"außen" liegende Bezugspunkt die historische Form des gegenseitig nützlichen
Tätigseins der Menschen, das gesellschaftliche Sein, ist. Zudem wird es durch die
Unterscheidung in (Oberflächen-)Erscheinungen und fungierende Tatsachen möglich, die von
der empirischen Soziologie erarbeiteten und quantitativ geordneten Daten auch qualitativ -
im Sinne der im vorigen Teil geforderten Soziologie - aufeinander zu beziehen.
Eine statistische, zeitpunktartige Betrachtung der
historischen materiellen Produktionsverhältnisse (der sog. ökonomischen Basis der
Gesellschaft) und des zugehörigen Überbaus (Institutionen, Bewußtseinsformen,
Wissenschaften in Juristerei, Politik, Kultur usw.) ist aber unmöglich. Denn nur bei
Berücksichtigung der charakteristischen Veränderungen in Basis und Oberbau wird deren
spezifisches Abhängigkeitsverhältnis ersichtlich. Die historische Dynamik der
Gesellschaft rührt, wie bereits angedeutet, zunächst von der gegenseitig nützlichen
Vermittlung geographischer, biologischer, produktionstechnischer Unterschiede und der
dabei stattfindenden und vom Bewusstsein - unter Ausnutzung von Sachzwängen - betriebenen
Optimierung her. In einem bestimmten Stadium dieser Vermittlung kann man die in letzter
Instanz entscheidenden Entwicklungsfaktoren im Begriff der Produktivkräfte
zusammenfassen. Daneben hat (aufgrund objektiver gesellschaftlicher Tatsachen wie der
Trennung von Theorie und Praxis, Spezialisierung, Entfremdung usw.) der Oberbau eine
relative Eigenständigkeit: er kann sich vorübergehend "selbständig"
entwickeln oder eine ökonomische Entwicklung zunächst nicht mitmachen, um dabei in einen
Widerspruch zur Basis zu gelangen. Im allgemeinen werden es nur einige Teile des Überbaus
sein, die sich in Widerspruch zur Basis befinden. Der Überbau kann als politischer,
juristischer und ideologischer Aspekt gewisser Produktionsverhältnisse aufgrund seiner
relativen Eigenständigkeit bei bereits weiter entwickelten Produktivkräften überalterte
Produktionsverhältnisse stabilisieren und aufrecht erhalten. Es entsteht ein Widerspruch
zwischen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen: die ökonomischen Strukturen
einer Gesellschaft werden zur Fessel für die Entwicklung der Produktivkräfte, leiten
diese fehl oder pervertieren sie in ihr Gegenteil.
Die Grundkategorien der marxistischen
Soziologie
oder: hier beginnt die Schulung
Um inhaltliche Aussagen machen zu können, muss der
heutige Stand der Produktivkräfte und Produktionsverhältnisse bestimmt werden. Dabei
geht es um einige allgemeine Grundzüge (Teil 3) und um jene technologischen Momente, die
zur soziologischen Analyse der elektronischen Musik notwendig sind (Teil 5). Die erste
Frage ist diejenige nach den Organisationsformen des gegenseitig nützlichen Tätigseins
der Menschen. Als Keimzelle dieser Organisation ist heute - wie in jeder Warengesellschaft
- die Produktion und der Tausch von Gebrauchsgütern als Waren anzusehen.
Von anderen Produktionsformen unterscheidet sich die
Warenproduktion zunächst dadurch, dass der Produzent einen Überschuss an
Gebrauchsgütern erzeugt, um damit einen Mangel an anderen Gebrauchsgütern auszugleichen.
Insgesamt setzt die Warenproduktion einen gewissen Grad gesellschaftlicher Arbeitsteilung
und die kontinuierliche Verdinglichung menschlicher Arbeitskraft in intersubjektiv
übertragbare Gebrauchsgüter voraus. Dies genügt aber noch nicht. Beim elementaren
Tauschakt Ware gegen Ware (W - W) müssen zwei Bedingungen erfüllt sein: 1) die Waren
müssen verschieden und für jeden Partner muss die Ware des anderen ein Gebrauchswert sein; 2) die Waren müssen, wenn von ihren verschiedenen Gebrauchswerten abgesehen wird,
gleichen Wert haben. Das Charakterisierende des Warentauschs ist, dass, nachdem die
Gebrauchswertbedingung 1) erfüllt ist, vom Gebrauchswert abstrahiert wird und nur noch
der Tauschwert von Interesse ist.
Diese Tauschabstraktion macht die verschiedenen Waren
kommensurabel. Daher kann der jeweils gemeinsame Tauschwert sich verselbständigen und
materiell als Geld in Erscheinung treten. Der Warenaustausch W - W zerfällt dann in zwei
Akte, Verkauf und Kauf, W - G und G - W; zusammen: W - G - W. Solange der Produzent Waren
verkauft, um andere Waren zu kaufen, ist Geld ein Mittel der Warenzirkulation. Wird
hingegen gekauft, um zu verkaufen, verwandelt sich also W - G - W in G - W - G, so
funktioniert das Geld als Kapital. Der Prozeß - W - G ist nur sinnvoll, wenn das
beim Verkauf W - G realisierte Kapital größer ist als das beim Kauf G - W
vorgeschossene. Der Kapitalist muss also im allgemeinen einen Produktionsprozeß P
einschalten, der aus den gekauften Waren wertvollere Waren W macht:
G - W ... P ... W - G = G + D G
Der Arbeiter muss im Produktionsprozeß P einen Mehrwert
schaffen, der sich als Gewinn D G realisieren läßt.
Die kapitalistische Gesellschaft zerfällt in zwei
Klassen, deren weitere Differenzierung hier nicht zu interessieren braucht. Die
Kapitalistenklasse kontrolliert den Produktionsprozeß P, da sie im Besitz der
wesentlichen Produktionsmittel ist, und kann Geld als Kapital zirkulieren lassen. Die
Arbeiterklasse verkauft die Ware Arbeitskraft, um dafür Unterhaltsmittel zu kaufen; für
sie ist Geld Zirkulationsmittel und nicht Kapital. für die gesamte Gesellschaft ist aber
entscheidend, dass die beim Warentausch notwendige Tauschabstraktion durch den
kapitalistischen Produktionsprozeß festgeschrieben wird. Das bedeutet zweierlei:
1. Die einzige Ware, die der Arbeiter verkaufen kann, ist
seine Arbeitskraft. Ihr Gebrauchswert ist die Arbeit. Die Trennung von Tausch- und
Gebrauchswert ist die Entzweiung von Lohn und Arbeit: dem Arbeiter gehört nach dem
Verkauf seiner Arbeitskraft der Lohn (Tauschwert der Ware Arbeitskraft), dem Kapitalisten
die Arbeit (Gebrauchswert der Ware Arbeitskraft). Der Kapitalist verfügt üer die Arbeit
nach seinem Ermessen bzw. nach den Gesetzen der Kapitalverwertung. Der Arbeiter arbeitet
daher fremdbestimmt, er ist von seiner LebensTätigkeit entfremdet. Die Tauschabstraktion
wird somit im Widerspruch von Lohnarbeit und Kapital, im Klassenantagonismus von
Proletariat und Bourgeoisie und in der Entfremdung des produktiv arbeitenden Menschen von
seiner LebensTätigkeit reproduziert.
2. Die Aufgabe der kapitalistischen Produktion ist, die
Transaktion G - W ... P ... W - G zustande zu bringen, d. h. das
vorgeschossene Kapital zu "verwerten". Da das Ziel der Produktion ein vermehrtes
Kapital G ist, heißt das: produziert werden Tauschwerte; die Produktion wird danach
ausgerichtet, relativ hohe Tauschwerte zu schaffen, die Differenz G - G = D G zu
optimieren. Der Gebrauchswert spielt erst beim Verkauf W - G der Waren eine
Rolle. Von hier wirkt er nur bedingt auf die Produktion zurück, jedoch nicht
vollständig, wie Überproduktion, Wertvernichtung (Rüstungsproduktion), Absatzkrisen und
die Notwendigkeit der Werbung zeigen. Wie der Gebrauchs- dem Tauschwert, so ist also die
Bedürfnisstruktur der Konsumenten dem Prinzip der Profitmaximierung untergeordnet. Die
Tauschabstraktion wird im Widerspruch zwischen kapitalistischer Produktion und
gesellschaftlicher Konsumtion, zwischen Profit- und Bedürfnisorientierung
reproduziert.
Sowohl die Entfremdung des produktiv arbeitenden Menschen
von seiner LebensTätigkeit als auch der Widerspruch zwischen Profit- und
Bedürfnisorientierung im Rahmen der kapitalistischen Warenproduktion haben unmittelbare
musiksoziologische Konsequenzen: einmal für den spezifischen "Warencharakter"
der Musik, zum anderen für den Zusammenhang zwischen Musikjournalismus und Werbung. Die
ökonomischen Grundlagen dieser Erscheinungen müssen hier noch kurz skizziert
werden.
Der Fetischcbarakter der Waren. Der
gesellschaftliche Zusammenhalt zwischen den Individuen ist zwar stets letztlich das
wechselseitig nützliche Tätigsein, der "gesellschaftliche Charakter der
Arbeit" (Karl Marx), erscheint aber dem einzelnen ausschließlich in der Form eines
Hin und Her von Waren, wobei das Geld eine Vermittlerrolle spielt. Aus der Sicht des
produktiv arbeitenden Menschen nimmt sich nach den Ausführungen unter Punkt 1) Sinn und
Zweck von "Arbeiten" folgendermaßen aus: für ein menschenwürdiges Dasein
benötigt er gewisse Gebrauchsgüter, zu denen der Einfachheit halber auch Wohnung,
Bildung usw. zählen mögen; er kann diese kaufen bzw. beschaffen, falls er Geld besitzt;
um Geld zu bekommen, muss er aber erst selbst etwas verkaufen; im Regelfall hat er nur
seine eigene, in irgendeiner Weise qualifizierte Arbeitskraft anzubieten, denn
Fertigprodukte kann er nicht in eigener Regie herstellen, da er nicht im Besitz der dazu
notwendigen teuren Produktionsmittel und -anlagen ist; er geht auf den freien
Arbeitsmarkt, wo er als Käufer seiner einzigen Ware "Arbeitskraft" die Besitzer
der Produktionsmittel vorfindet; einer dieser Käufer kauft die Arbeitskraft (für eine
bestimmte Zeit); der Käufer bezahlt nicht sofort, sondern im allgemeinen erst, nachdem er
die Arbeitskraft "konsumiert" hat, d. h. den Arbeiter hat arbeiten lassen - so
scheint es, als ob der Arbeiter für seine Arbeit bezahlt würde. Wenn der Arbeiter
"um Geld" arbeitet, so ist dies also eine etwas verschleierte, aber subjektiv
zutreffende Ausdrucksweise für die zugrunde liegende Tatsache der Warenbewegung:
Arbeitskraft - Geld und Geld - Gebrauchsgüter
Diese Warenbewegung ist objektiv gegeben und die
fundamentalen Gesetze, wie z. B. die Gleichheit der Werte beim Warentausch, sind durchaus
Eigenschaften der Waren und keine Hirngespinste der Menschen. Die Regeln, nach denen Waren
ausgetauscht und bewegt werden, sind die Bügerlichen Gesetze der Warengesellschaft. (Zum
Beispiel regelt das Betriebsverfassungsgesetz Modalitäten des Gebrauchs der Ware
Arbeitskraft.)
Dennoch ist diese Bewegung der Waren insofern Schein, als
materielle oder immaterielle Dinge und Arbeitskräfte erst dadurch zu Waren werden und
sich als Waren gesetzmäßig bewegen können, dass sie Agenten des wechselseitig
nützlichen Tätigseins der Menschen einer Gesellschaft sind. Es ist nicht möglich, dass
ein Mitglied der kapitalistischen Gesellschaft als gesellschaftliches Wesen anders als auf
die beschriebene Art lebt. Es ist ihm auch nicht möglich, den Scheincharakter der
Warenbewegung für sich, privat, zu beseitigen. Die Eigenschaften der Waren, ihre
"autonome" Bewegung und deren Gesetze sind "gegenständlicher Schein",
wie Karl Marx sagt - und das ist ihr Fetischcharakter.
Die Produkte, die der einzelne Mensch produziert oder
arbeitsteilig mitproduziert, werden in keiner Phase ihres Daseins - bei der Herstellung,
beim Verkauf und Kauf, bei der Konsumtion - als das erkannt, was sie eigentlich sind. Zwar
befriedigen sie individuelle Bedürfnisse während des Konsums, doch wird ihre
gesellschaftliche Funktion als Vermittler wechselseitig nützlichen Tätigseins der
Menschen nicht realisiert. inwieweit individuelle Bedürfnisse imaginiert und
manipulierbar sind, zeigt heute die sich endlos steigernde quantitative
KonsumentenTätigkeit der Wohlstandsgesellschaft so deutlich, dass bereits Politiker den
Widerspruch zwischen der "Qualität des Lebens" und der blühenden Wirtschaft
sehen.
Die zentralen Eigenschaften der Gesellschaft erscheinen
hingegen als Eigenschaften von Gegenständen nicht aufgrund von individueller
Einbildung,Täuschung oder bösartiger Manipulation, sondern aufgrund der spezifischen
kapitalistischen Produktionsverhältnisse und den ihnen entsprechenden Mechanismen des
Überbaus. Der gegenständliche Schein des wechselseitig nützlichen Tätigseins der
Menschen, die "Verdinglichung" gesellschaftlicher Verhältnisse, wird zum
Fundament des gesellschaftlichen Bewusstseins überhaupt. Dieser Schein erstreckt sich
nicht nur auf die Sphäre der materiellen Warenproduktion, der er ursprünglich entstammt,
sondern auch auf die Sphäre von Verteilung, Kommunikation, immaterielle Produktion, auf
jede Art gesellschaftlichen Verhältnisses, auch wenn ihr - was praktisch immer der Fall
ist - eine Anzahl von Überbau-Erscheinungen zuzurechnen sind. Tatsächlich werden sich
gerade durch den Fetischcharakter der Waren spezielle "bügerliche"
Charakteristika vieler Überbau-Erscheinungen erklären lassen (vgl. 4).
Die Funktion der Werbung. Indem die
kapitalistische Warenproduktion den Widerspruch von Tausch- und Gebrauchswert in
gesamtgesellschaftlichem Maßstab reproduziert, bestimmt sie auch die Eigentümlichkeiten
der Warenzirkulation. Die letzte Aktion bei der Verwertung des Kapitals G - G ist
zugleich der Beginn der Zirkulation: der Verkauf der Ware W durch den Kapitalisten.
Hierbei ergeben sich eine Reihe prinzipieller Schwierigkeiten:
1. Beim Verkauf muss der Widerspruch zwischen Tausch- und
Gebrauchswert, zwischen Verwertungsbedingungen des Kapitals und Bedürfnisstruktur der
Konsumenten überbrückt werden.
2. Beim Verkauf muss - insgesamt - mehr Wert realisiert
werden (nämlich G), als ursprünglich vom Kapitalisten vorgeschossen, d. h. dem
Markt entzogen worden ist (nämlich G).
3. Beim Verkauf muss der Konsument, der zugleich Arbeiter
ist, sich freiwillig alle Voraussetzungen zur effektiven Reproduktion seiner Arbeitskraft
verschaffen.
Diese Forderungen können nicht von selbst erfüllt sein.
Es bedarf dazu gerichteter Anstrengungen, die den gesamten gesellschaftlichen
Lebensprozeß einschließlich der ideologischen Bereiche ergreifen. Das wichtigste Produkt
dieser Anstrengungen (die heute unter dem Begriff "Marketing" zusammengefaßt
werden) ist die Werbung.
1. Die Werbung läßt die als Tauschwert produzierte Ware
als Gebrauchswert erscheinen. Sie muss über die realiter vollzogene Tauschabstraktion
hinwegtäuschen und dem Konsumenten Gebrauchswerte vorspiegeln. Sie muss in einer
Globalstrategie die Bedürfnisstruktur der Konsumenten den Verwertungsbedingungen des
Kapitals soweit als möglich angleichen. Die Werbung hat dabei alle Male, die der Ware
dank ihrer "Autonomie" (Tauschabstraktion) anhaften, als spezifische funktionale
Qualitäten (Gebrauchswerte) darzustellen.
2. Die Werbung hat ferner dafür zu sorgen, dass der im
kapitalistischen Produktionsprozeß produzierte Mehrwert auch tatsächlich realisiert
wird: a) der Markt muss ständig vergrößert werden, sei es dadurch, dass neue
Konsumenten gewonnen werden, sei es dadurch, dass alte Konsumenten ihre Konsumtionszeit
verkürzen; b) die Zirkulationszeit muss ständig verringert, d. h. der Verkauf
beschleunigt werden, da bei schnellerer Zirkulation gleiches Kapital größere
Profitmassen jährlich hervorbringt; c) Monopolisierung (Ausschalten des hinderlichen
Konkurrenzprinzips) und Massenproduktion (Erhöhung der Produktivität) muss dadurch
gefordert werden, dass deren negative Folgen für den Konsumenten (z. B. Uniformisierung
der Gebrauchswerte) in einem formalen Pluralismus aufgelöst und so verschleiert werden.
Die Werbung dient den Zwecken a) bis c) vor allem dadurch, dass sie durch die Reproduktion
eines Gebrauchswertscheins verschleiert, dass trotz "ästhetischer Innovation"
und ständiger Änderung formaler Eigenschaften die Waren funktional gleichartig
sind.
3. Die Werbung hat die Bedürfnisstruktur noch in einem
weiteren Sinn den Verwertungsbedingungen des Kapitals anzupassen: die Arbeiterklasse soll
durch ihr Konsumverhalten die Ware Arbeitskraft für den kapitalistischen
Produktionsprozeß wiederherstellen. Darunter fällt nicht allein die Aufrechterhaltung
physischer Kräfte (Essen, Wohnen, Schlafen), die Regeneration der Arbeiterklasse
insgesamt (Familienunterhaltung, Gesundheitswesen), die Qualifikation der Arbeitskraft
(Ausbildung), sondern auch psychische Zurichtung. Die Entfremdung von der Arbeit soll
individuell ertragen, der kapitalistische Produktionsprozeß freiwillig bejaht und die zu
seiner Aufrechterhaltung notwendigen staatlichen Herrschaftsstrukturen als
Lebensnotwendigkeit anerkannt werden. Die Werbung vertieft zu diesem Zweck den Gegensatz
von Arbeit und Freizeit und schreibt dadurch die entfremdete LebensTätigkeit fest; sie
idealisiert den bügerlichen Eigentumsbegriff und fordert die Atomisierung der
Gesellschaft, indem sie jeden Menschen mit einer Isolationsschicht von tatsächlichen oder
möglichen Konsumartikeln umgibt; sie pervertiert die gesellschaftliche Ohnmacht des
einzelnen in das Gefühl von Freiheit, indem sie die formale Vielfalt der Auswahl mit dem
Schein inhaltlich alternativen, selbstbestimmten Handelns umgibt. Die Werbung dient der
Aufrechterhaltung des Fetischcharakters der Waren und der Verdinglichung
gesellschaftlicher Verhältnisse: dem KonsumentenBewußtsein erscheinen die (qualitativen)
sozialen Beziehungen zwischen Menschen als Eigenschaften von Dingen.
Diese Funktionen der Werbung werden durch
marktwirtschaftliche Faktoren (Konkurrenzkampf) ergänzt, die hier nicht weiter zu
interessieren brauchen. Wichtig ist bei allen Funktionen der Werbung, dass Werbung nie von
sich aus die Voraussetzungen zu einer dieser Funktionen schafft, sondern immer nur
reproduzierenden Charakter hat: die "Autonomie" der Ware, der Zwang zu
ästhetischer Innovation oder der Fetischcharakter können nicht von der Werbung
geschaffen werden; andererseits bedürfen heute alle diese Erscheinungen der Werbung, um
nicht durch immanente Widersprüche zugrunde zu gehen.
Musik als Ware - streng nach Marx
oder: nun fallen einem die Schuppen von den Augen
Die Frage nach der Rolle, die musikalische Erscheinungen
im Rahmen der bisher aufgeführten allgemeinen Kategorien spielen, ist die allgemeine
musiksoziologische Frage. Sie zerfällt in eine Reihe von Einzelfragen, wie die
Frage
nach dem Ort der Musik in Basis und Oberbau,
nach den inhaltlichen Auswirkungen der ökonomischen Basis
einer kapitalistischen Gesellschaft auf die Musik, speziell
nach dem Warencharakter von Musik,
nach der Trennung von Gebrauchs- und Tauschwert, sowie der
Werbung im Fall der Musik und
nach den musikalischen Produktivkräften bzw. der
Bedeutung technologischer Entwicklungen für die Musik.
Die erste Schwierigkeit, wenn man den Ort der Musik in
Basis und Oberbau aufsucht, besteht darin, dass es musikalische Erscheinungen gibt, die
ausschließlich dem Oberbau angehören, während andere Erscheinungen in die ökonomische
Basis hineinreichen. In beiden Fällen kommt der gesellschaftlichen Funktion der Musik - auf allerdings unterschiedliche Weise - eine zentrale Bedeutung zu. ökonomische
Bedingungen können musikalische Erscheinungen durch diese Funktionen vermittelt oder aber
unvermittelt bestimmen. "Vermittelt" heißt: aufgrund ökonomischer Bedingungen
haben musikalische Produkte und Aktionen gewisse gesellschaftliche Funktionen zu
erfällen; direkt sind es diese Funktionen, die eine gewisse musikalische Erscheinung
bestimmen.
Hinzu kommt eine zweite Schwierigkeit dadurch, dass die
Produktivkräfte - besonders deutlich im Falle der elektronischen Musik - auch unmittelbar
auf musikalische Erscheinungen einwirken können, ohne vollständig durch die
Produktionsverhältnisse vermittelt zu sein. Die Produktionsverhältnisse sind allerdings
in keinem Fall ganz bedeutungslos, denn sie üben immer einen
dialektisch-widersprüchlichen Einfluss auf die Entwicklung der Produktivkräfte aus, der
für die Art und Weise, wie die Produktivkräfte innerhalb der Musik zur Entfaltung
kommen, bestimmend ist. Stehen beispielsweise Produktivkräfte und
Produktionsverhältnisse im Widerspruch, wirken daneben beide auf die Musik - direkt oder
indirekt - ein, so wird es dazu kommen, dass die Musik diesen Widerspruch selbst
"enthält" und auf irgendeine Weise zum Ausdruck bringt.
Gerade hierdurch wird deutlich, dass unter "der
Musik" nicht allein Kompositionen verstanden werden können und der genannte
Widerspruch als irgendeine Eigenschaft musikalischen Materials zu erkennen sein muss. Dies
ist wohl im seltensten Fall wirklich möglich (obgleich es gerade bei der elektronischen
Musik aufgrund der besonderen Rolle, die die Technik hier spielt, wirklich vorkommen kann,
dass sich das Material gesellschaftlich oder ökonomisch "dechiffrieren"
lässt). "Die Musik" im soziologischen Sinn ist vielmehr Inbegriff all
dessen, was an gesellschaftlichen Verhältnissen im angegebenen kategorialen Rahmen durch
musikalische Kompositionen und ähnliche Akte vermittelt ist. So wird der Widerspruch
zwischen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen am wenigsten
"innerhalb" der Komposition, in ihrer musikalischen Struktur, zu finden sein,
sondern viel eher als ein widersprüchliches Verhältnis zwischen Struktur, Technologie
und Intension des Komponisten, historischer Situation und gesellschaftlicher
Funktion.
Die Produktivkräfte, die im Zusammenhang mit der
elektronischen Musik von spezieller Bedeutung sind, sind vor allem die technologischen
Errungenschaften auf elektroakustischem, elektronischem und kommunikationstechnischem
Gebiet. Inwieweit Kommunikation nicht zu den Produktionsverhältnissen - genauer: deren
Unterabteilung Verkehr und Vermittlung - zu zählen ist, braucht vorläufig nicht
entschieden zu werden. Wesentlich ist die Art und Weise, wie diesen Produktivkräften im
Kapitalismus die Produktionsverhältnisse gegenüberstehen: es kommen nur diejenigen
Aspekte der Produktivkräfte zur Entfaltung, die widerspruchslos unter die
kapitalistischen Produktionsverhältnisse subsumiert werden können. Dies ist der Fall,
wenn sie unmittelbar profitbringend und profitmaximierend eingesetzt werden können oder
wenn sie mittelbar profitabel sind, etwa dadurch, dass sie als ideologische Faktoren das
zugrundeliegende ökonomische System effektiv zu stabilisieren versprechen.
Der Idealfall, dass sich Produktivkräfte in der Weise
profitmaximierend entwickeln lassen, dass auch sie für das System positive ideologische
Effekte zeitigen, tritt keineswegs immer ein. Gerade auf musikalischem Bereich muss die
ideologisch wirksame Musik zu großen Teilen vom Staat subventioniert werden, da sie nicht
unmittelbar profitbringend ist. Längerfristig jedoch kann dieser Zustand im Rahmen des
kapitalistischen Systems nicht stabil sein: Produktivkräfte, die nicht zur
Profitmaximierung eingesetzt werden können, kommen nicht zur vollen Entfaltung und
verkümmern.
Heute darf es bereits einer subtilen Kenntnis der
Zusammenhänge zwischen Kompositionsaufträgen der Rundfunkanstalten, Vergabe von
Stipendien, Plattenmitschnitten der Uraufführungen, Drucklegung bei größeren
Verlagskonzernen, Exclusivverträgen, Wünschen von Veranstaltern und Auftraggebern
bezüglich Instrumentalbesetzung, technischer Realisation und inhaltlicher Mittel, um
überhaupt noch an jenen Stellen, wo musikalische Produktion als Teil der ökonomischen
Basis, also direkt im Spannungsfeld zwischen Produktivkräften und
Produktionsverhältnissen aufgefasst werden kann, das Motiv der Profitmaximierung
unvermittelt zu erkennen. In den ersten Jahrzehnten der technischen Reproduktion von Musik
war dies wesentlich einfacher, und es ist nicht weiter verwunderlich, dass ein Komponist
wie Bela Bartok ohne alle materialistische Theorie im Jahre 1934 selbstredend die
monopolkapitalistischen Produktionsverhältnisse für die Behinderung der in der
technischen Reproduktion gelegenen Möglichkeiten verantwortlich gemacht hat: "Mit
Bedauern müssen wir jedoch feststellen, dass die aus Gründen eines möglichst großen
und möglichst schnellen Profits entstandenen Grammophongesellschaften unter diesem
Gesichtspunkt nicht im mindesten ihre Aufgabe erfüllen" (Die maschinelle Musik,
in: Bela Bartok: Musiksprachen. Aufsätze und Vorträge, Reclam Leipzig 1972, S.
178).
Bei einer ähnlich allgemein gehaltenen Aburteilung würde
heute ein Meer von "Gegenargumenten" auf den Kulturkritiker eindringen: Hinweise
auf großzügige Stipendien, nicht lohnende Kompositionsaufträge, unprofitable
Experimentierstudios, minimale Auflagenziffern avantgardistischer Musik und Platten, auf
demokratische Gremien an Rundfunkanstalten und vor allem auf die marktwirtschaftliche
Theorie von der Nachfrage des Publikums als Produktionsregulator und Ausdruck der
Bedürfnisstruktur. Zu einer Erklärung der vielfachen Erscheinungen gerade im Bereich der
E-Musik genügt offensichtlich nicht die Betrachtung derjenigen Punkte, an denen die
musikalische Produktion selbst eine (monopol-)kapitalistische ist. Heute bereits zu
Modewörtern gewordene Ausdrücke wie "musikalische Produktion", "Kunst als
Ware", "Musikproduzent", "Musikkonsument" usw. legen ökonomische
Analogien nahe, die - falls sie überhaupt irgendwie treffen - meist aber nicht das
Wesentliche benennen und erklären können.
Primär dient Musik heute als eine Form von Ideologie bzw.
als Vermittler gesellschaftlicher Funktionen, die dabei systematisch und raffiniert
verschleiert oder verfälscht werden, der Reproduktion falschen gesellschaftlichen
Bewußtseins. Diese Eigenschaft besitzt die Musik auch dann, wenn sie beispielsweise
"handwerklich" hergestellt und in keiner Weise unmittelbar unter das Kapital
subsumiert ist. Wo dieser ideologischen Funktion ökonomische Produktionsverhältnisse
eingepasst werden können, gelten - dann aber sekundär - die kapitalistischen Kategorien
wie die Profitmaximierung unmittelbar innerhalb der musikalischen Produktion. Lassen sich
aber ökonomische Kategorien nicht einpassen, so kann daraus noch nicht geschlossen
werden, dass diese musikalischen Erscheinungen in irgendeiner Weise bereits
"kritisch" zur kapitalistischen Gesellschaft oder gar außerhalb ihres
Einflussbereiches stehen. Die kulturpolitische Frage etwa bei der avantgardistischen
E-Musik ist heute keineswegs, ob sie dem System nützt, indem sie Widersprüche
verschleiert und Aktivitäten paralysiert, sondern ob dieser Nutzen nicht billiger
erbracht werden kann - das ist der Kern der Diskussion um die Reform der Musikhochschulen,
die Etatfragen an städtischen Opernanstalten, die Sendezeiten und -dauern der
Musikabteilungen des Rundfunks.
Profitdenken wirkt auf die musikalische Produktion in
doppelter und widersprüchlicher Weise zurück. Einerseits passen sich Komponisten auf
längere Sicht gegebenen musikalischen Produktionsverhältnissen an, die in einem mehr
oder weniger stabilen Gleichgewicht zum Profitinteresse stehen. Dies gilt nicht nur heute
für elektronische Komponisten, die sich an den von der Elektroindustrie vorgezeichneten
Bedingungen und Möglichkeiten zu orientieren haben, sondern schon für unprofitable
Extremfälle wie Anton Webern, der angesichts der Aufführungsmöglichkeiten seiner Werke
auch Symphonien und Konzerte für Kammerensemble geschrieben und auch sonst kleine
Besetzungen bevorzugt hat. Andererseits kann aber gerade auch ökonomisch errechneter
Mißerfolg zu einem Künstlerethos ideologisch stilisiert werden, so dass schließlich der
eigentliche Erfolg im Mißerfolg gesehen wird (was freilich bei Strafe des Hungertods
irgendeine materielle Basis voraussetzt); so sagt beispielsweise Schönberg im Frühjahr
1910: "Ich will zugeben, dass mir dieser Erfolg gegenwärtig noch fehlt, weil er
fehlen muss, wenn meine Sache so gut ist wie ich glaube" (Arnold Schönberg: Briefe,
hg. von E. Stein, Schott Mainz 1957, S. 24).
Eine Interpretation musikalischer Sachverhalte, in der
ausschließlich ökonomische Kategorien auf die musikalische Produktion angewandt werden
und die musikalische einfach ein Teil der materiellen gesellschaftlichen Produktion zu
sein scheint, ist aber nicht nur eine problematische Verkürzung der Sicht- und
Erklärungsweise, sondern beruht auf einem unzureichenden Verständnis des Fetisch- und
Warencharakters der Musik. Nach der plattökonomischen Vorstellung entspringt der Waren
und damit auch der Fetischcharakter aus der Tatsache, dass musikalische Produkte unter
alle Kategorien der materiellen kapitalistischen Warenproduktion subsumierbar sind. Ist
diese ökonomische Vorstellung zudem oberflächlich, so ist der Warencharakter ein Produkt
der Distributions- und nicht der Produktionssphäre der Gesellschaft. Es entstehen gemäß
jener Auffassung - möglicherweise in avantgardistischen Studios - musikalische Reservate,
in denen deshalb keine "Waren" produziert werden, weil nicht alle Kategorien
kapitalistischer Ökonomie wie z. B. das Prinzip der Profitmaximierung auf die
entsprechenden Produkte unmittelbar angewandt werden können. Die Kurzsichtigkeit
dieser Argumentation zeigt sich daran, dass in solchen Reservaten dann - wie etwa im
Kölner Studio für elektronische Musik - die Handarbeit, die Relation von vielen Wochen
Kleben und Montieren gegenüber wenigen Minuten klingender Musik und der manuelle Kontakt
zum Tonbandstreifen als Signum des Fortschritts gewertet werden.
Diese platt-ökonomische Interpretation ist aber, von
einem analytischen Fehler abgesehen, nicht in der Lage, zu erklären, inwiefern auch die
nicht direkt profitablen Musik-Produkte für den Kapitalismus nützliche, ja sogar
notwendige Erscheinungen sind. Insbesondere wäre es auf diese Weise nicht möglich, den
dem System immanenten Widerspruch zu sehen: dass die für das System lebenswichtigen
"ideologischen Produktionszweige" im Sinne der materiellen Produktionsgesetze
insofern veraltet sind, als sie wichtige Grundsätze kapitalistischer Ökonomie
verletzen.
Der Warencharakter der Musik liegt auf
einer Ebene, für die die heutige Tendenz der musikalischen Warenproduktion im
platt-ökonomischen Sinn lediglich das augenfälligste Symptom ist. Wie wird der
Fetischcharakter der Waren im Sinne eines objektiven Scheins der Verdinglichung
gegenseitig nützlichen Tätigseins der Menschen zum Fundament des gesellschaftlichen
Bewußtseins überhaupt. Indem diejenigen gesellschaftlichen, kommunikativen
Verhältnisse, die durch musikalische Kompositionen oder Aktionen vermittelt sind, nicht
direkt als das erscheinen, was sie sind, sondern als Eigenschaften von Produkten, herrscht
auch in der Musik der für die materielle Warenwelt charakteristische gegenständliche
Schein des wechselseitigen Tätigseins der Beteiligten.
Nicht also
durch Vermarktung oder Vermassung, nicht durch Absinken des künstlerischen Niveaus eines
zunehmend großen Teils der Musik, nicht durch die Tatsache, dass musikalische Produktion
heute Unmittelbar den ökonomischen Gesetzen der materiellen Warenproduktion unterliegen
kann, nicht durch die Zurückdrängung des Handwerklichen bei der kompositorischen
Tätigkeit und nicht durch die zunehmende Proletarisierung der Musiker ist der Fetisch-
und Warencharakter musikalischer Produkte (Kompositionen und Aktionen) in letzter Instanz
zu erklären. Diese Sachverhalte sind allesamt Symptome und ihre Beseitigung hebt deshalb
noch nicht den objektiven Schein des Warencharakters von Musik notwendig auf. Der
Fetischcharakter musikalischer Produkte (Kompositionen, Aktionen und deren medialer
Reproduktion) reicht daher weiter als nur bis zum symptomatischen Plattenmarkt, Starkult,
Festivalbetrieb, U-Musikgeschäft, Verlagswesen usw. Er kommt in allen grundlegenden,
heute selbstverständlichen musikalischen Werte- und Qualitätsvorstellungen der großen
E-Musik zum Ausdruck: der Akzentuierung von Kompositionstechnik, dem Fortschrittsbegriff,
dem Werkbegriff, der Instrumentalinterpretation als Gipfelpunkt musikalischer Tätigkeit
und Selbstverwirklichung, der Vorstellung von Autonomie und dem hierzu korrespondierenden
ästhetischen Urteil samt allen ihm assoziierten musikwissenschaftlichen und
musiktheoretischen Kategorien. Das gesellschaftliche Verhältnis, das durch musikalische
Produkte nur vermittelt wird, erscheint mit aller wissenschaftlichen und theoretischen
Emphase - objektiv - in Gestalt gewisser Eigenschaften der Produkte selbst; die
gesellschaftlichen Funktionen, die Musik erfüllt, scheinen allein vom musikalischen
Produkt herzurühren; die Kommunikation, die durch musikalische Aktionen hergestellt wird,
scheint Folge des an sich sekundären musikalischen Kodes zu sein.
Ein Komponist übergibt eine Komposition, auch wenn sie im
herkömmlichen Sinn "frei" geschaffen ist, der Musikwelt nicht, um ein
gesellschaftliches Verhältnis herzustellen, sondern damit das Produkt angehört,
analysiert, besprochen, ästhetisch beurteilt werde. Das Ziel der Komposition ist somit,
sich einem gegebenen Rahmen gesellschaftlicher, durch musikalische Produkte vermittelter
Verhältnisse an- und einzufügen. Der Musiker zielt auf diejenigen Kategorien ab, die dem
Fetischcharakter der Musik in der bügerlichen Gesellschaft - deren Anfänge in
Reservaten bis tief ins feudal-klerikale Mittelalter hineinreichen - entsprechen.
Damit dieser objektive Schein der Warenbewegung, der
universelle Fetischcharakter nicht in seinem Wesen erkannt und in seiner Funktion
durchschaut wird, bedarf die Gesellschaft einer Vielzahl von Einrichtungen, die teils
unmittelbar durch die kapitalistische Ökonomie hervorgebracht, teils als umfunktionierte
historische Relikte zu verstehen sind. So ist es vor allem das Spezialistentum im Gefolge
kapitalistischer Arbeitsteilung das - in Wechselwirkung mit entfremdetet Arbeit -
atomisiertes Bewußtsein und schließlich den Schein einer gegenüber der materiellen
Produktion eigenständigen Kopfarbeit erzeugt. Die Eigengesetzlichkeit des Überbaus ist
wesentlich hierin verankert. Die Kopfarbeit wird, von ihrer materiellen Basis
abgeschnitten, selbst in unverbundene Einzelteile zerstückelt. Zerstückelung und
Eigenständigkeit des Überbaus sind aber nicht zufällig auf dieser (ökonomischen) Basis
entstanden, sondern systematisch im Interesse der kapitalistischen Ökonomie
vorangetrieben und reproduziert worden.
Besonders einsichtig ist die ökonomische Basis der
Eigenständigkeit von Überbauerscheinungen im Falle des die Musik begleitenden
Musikjournalismus (von Populärliteratur und Werbung bis zur Musikkritik und
Fachliteratur). Da sich die Untersuchungen der folgenden Kapitel in erheblichem Ausmaß auch auf musikjournalistische Aussagen beziehen werden, ist es notwendig, die Funktion
des Musikjournalismus vor allem dort zu bestimmen, wo er die nicht um des
unmittelbaren Profits willen produzierte Musik begleitet. Die Trennung von Gebrauchs- und
Tauschwert der Waren bedeutet, dass auch bei der nicht um des unmittelbaren Profits willen
produzierten Musik sich von der Funktion (Gebrauchswertseite musikalischer Produkte) eine
andere musikalische Dimension abgesondert hat: die "Autonomie" der Musik.
Wie jede Ware so ist auch die "autonome" Musik
als abstrakter Tauschwert hervorgebracht. Die als Tauschwert produzierte Ware hat
prinzipielle Schwierigkeiten, als Gebrauchswert zu erscheinen Auch "autonome"
Musik hat diese Schwierigkeit, sich dem Hörer bzw. Käufer als ein begehrenswertes und
brauchbares Objekt darzustellen. "Autonome" Musik braucht eigentlich nur
"da" zu sein. Wie idealistische Musikästhetik immer wieder sagte, treibt
bereits das sinnliche Erscheinen die "autonome" Musik in unüberbrückbare
Widersprüche. Der Widerspruch zwischen Tausch- und Gebrauchswert ist Voraussetzung des
Tauschakts und im Kapitalismus zugleich Ausfluss des Produktionsprozesses. Der Widerspruch
zwischen "Autonomie" und Funktionalität der Musik ist in analoger Weise eine
Voraussetzung des bügerlichen Musikbetriebs, der die Institution der Funktion dieser
"Autonomie" ist.
Die gleichen Widersprüche auf seiten der profitabel
produzierten Ware und auf seiten der als "autonome" produzierten Musik bringen
die gleichartigen Symptome und Vermittlungsinstanzen Werbung und Musikjournalismus hervor.
Der Musikjournalismus hat die Aufgabe, den Widerspruch auszutragen und zu vermitteln, den
die Abstraktion der "autonomen" Musik von ihren Funktionen beinhaltet. Damit
übernimmt er die Aufgabe der Werbung, welche die durch die Tauschabstraktion entstandene
Kluft zwischen Produktionsprozeß und Bedürfnisstruktur der Konsumenten zu überbrücken
hat. Musikalische Produkte, die als profitable Waren auftreten, bringen einen
Musikjournalismus hervor, der alle üblichen Merkmale der Werbung aufweist.
"Autonomie" musikalischer Produkte erfordert indessen als Werbung jenen
Musikjournalismus, auf den die Kriterien und Kategorien der Musikwissenschaft anwendbar
sind, also die Musikkritik.
Die drei wichtigsten Aufgaben der Werbung hat jeder
Musikjournalismus zu erfüllen:
1. Der Musikjournalismus stellt alle Male, die der Musik
dank ihrer "Autonomie" anhaften, als funktionale Qualitäten dar: er läßt sich
auf "die Sache selbst" ein, um von daher ein Konzertereignis, eine
Schallplatteneinspielung oder eine Komposition zu beurteilen. Er spiegelt - in der
Alltagspraxis allerdings meist unvollkommen - den Konsumenten vor, die
kompositionstechnisch bestimmten, immanenten Qualitäten seien es, die im Konzert oder auf
der Schallplatte zu sich selbst kämen, Kommunikation (Musikerlebnis) darstellten und die
Funktion der Musik aus sich heraus zeugten.
2. Die gesellschaftliche Funktion "autonomer"
Musik ist bei gesellschaftlicher Blindheit der Komposition bzw. des Komponisten durch die
Mechanismen des Kulturbetriebs und der in diesem Betrieb realisierten gesellschaftlichen
Interessen gegeben. Daher können sich die Funktionen "autonomer" Musik bei
gleichbleibender gesellschaftlicher Interessenlage auch nicht ändern. Stattdessen besteht
ein fortwährender Zwang zu formaler Neuerung, auf den sich der Musikjournalismus so
einlassen muss, als ob es sich um neue Inhalte handelte. Damit verschleiert der
Musikjournalismus durch die Reproduktion eines (falschen) Scheins inhaltlicher Neuerungen
die Tatsache, dass trotz ästhetischer Innovation und ständiger Änderung formaler
Eigenschaften die Musik ihre Funktion nicht ändert, sondern nur neuen Bedingungen
anpasst.
3. Nichtprofitable musikalische Produktion wird bisweilen
wegen ihrer ideologischen Bedeutung am Leben erhalten. Diese Ideologie ist weder bei der
Alltagsware, noch bei nichtprofitabler Musik ein äußerlicher Zusatz zum Warencharakter,
sondern gezielte Entfaltung von dessen Eigenschaften. Dabei ist die Aufgabe des
Musikjournalismus, die ideologischen Funktionen der Musik verbal zu präzisieren,
besonders wichtig, weil musikalische Produkte sehr leicht "umfunktionierbar" (d.
h. funktional ambivalent) sind. Besonders präzise ist gerade jener Journalismus, der sich
ganz in die "Sache selbst" versenkt, alle Aussagen kompositionsanalytisch
abstützt und den Interpreten an seiner kritischen Standhaftigkeit angesichts des
Widerspruchs der sinnlichen Erscheinung von "Autonomie" mißt. Dieser
Musikjournalismus dient der Aufrechterhaltung und Reproduktion des Fetischcharakters der
musikalischen Produkte und der Verdinglichung gesellschaftlicher Verhältnisse: dem
KonsumentenBewußtsein erscheinen die (qualitativen) sozialen Beziehungen zwischen
Menschen als Eigenschaften von Dingen.
Insgesamt bedeutet somit der Warencharakter der Musik,
dass durch die Verdinglichung gesellschaftlicher Verhältnisse musikalische Kommunikation
eine besondere Art von Warentausch oder dessen Begleiterscheinung, Werbung, wird. Werbung
und Warenaustausch sind dabei oft ebenso schwer voneinander zu trennen wie
musikalisch-akustische und musikjournalistische Kommunikation: wie die Ware selbst für
sich Werbung machen kann, so kann umgekehrt der Konsum der Werbung unverzichtbarer, wenn
nicht sogar bestimmender Bestandteil des Warenkonsums sein. Gerade der letzte Fall tritt
auf musikalischem Gebiet vor allem dort häufig ein, wo es sich um "schwierige"
Musik handelt, die primär durch ihre musikjournalistische Kornmentierung lebt.
Der Autor interessiert sich dafür, wer heute noch diesen Text liest und, wenn ja, was die/der Leser/in damit anfangen kann.
Der Vorschlag, diesen Text zu veröffentlichen, kam in der Abschlussdiskussion einer Tagung im November 1999 zum "Stand der
marxistischen Musikwissenschaft" 10 Jahre nach dem Fall der Berliner Mauer in Oldenburg und entsprach einem Wunsch der Studierenden.
Kommentare an den Autor: wolfgang.stroh@uni-oldenburg.de. Besten Dank!