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Die Bremer Gamelaninstrumente

Nachuntersuchung 2023

Seit 2017 besitzt die Hamburger Elbphilharmonie ein Gamelaninstrumentarium. Inzwischen gibt es dort zwei Gruppen und ein Mitmach-Projekt. 2021 erfuhr ich, als ich im Rahmen eines Uni-Seminars die neue Vermessung der Bremer Instrumente vorgenommen habe, dass Ulrich Götte, der Komponist von MIRA, eine Neuaufführung von MIRA in Hamburg plant. Ich sollte dazu auch die Synthesizerstimmung übernehmen, weil sich übliche mikrotuningfähige Synthesizer für eine Stmmung, die keine reinen Oktaven und kein "Oktavsystem" hat, nicht eignen. Die Musikstudentin Mika Miyashita war daran interessiert, die Entstehung dieser zweiten MIRA mit zu verfolgen und zu dokumentieren. Nicht unähnlich der Umstände bei der Uraufführung, als die Bremer Gruppe Arum Sih und ihr Leiter Andreas Lüderwaldt aus dem MIRA-Projekt ausgestiegen waren, stellte es sich im Laufe des Jahres 2021/22 heraus, dass die Hamburger Gruppe nicht in der Lage war, die für Sommer 2022 angesetzte Aufführung von MIRA zu bewerkstelligen. Die Probleme waren dieselben wie 1995 in Bremen: die Laienspieler/innen konnten nicht die westlichen Noten lesen bzw. diese auf ihr Gamelanwissen und -können übertragen. Zudem war die Komposition MIRA (ungewohnt) anspruchsvoll. 1995 sprangen seinerzeit Musikstudent/innen aus Oldenburg ein. In Hamburg konnte eine solche Lösung nicht gefunden werden.

Die "Nachuntersuchung 2023" von Mika Miyashita fand 2022 in folgender Form statt:

  1. Erkundung der unterschiedlichen Konzeptionen in Bremen und Hamburg (Interviews mit den Leitern Lüderwaldt und Tanoto),
  2. Vermessung der Hamburger Instrumente und Vergleich mit den Bremer Messergebnissen,
  3. Stand der MIRA-Idee (Interview mit dem Komponisten), Beobachtungen in Hamburg,
  4. Diskussion im Hinblick auf aktuelle Fragen zur Kritik der "Kulturellen Aneignung", des Postkolonialismus und strukturellen Rassismus.

Stichworte zum Ergebnis zu Punkt 1:

Zentrale Ergebnisse der Interviews mit den beiden Ensemble-Leitern (Lüderwaldt und Tanoto) sind, dass in beiden Ensembles neben dem rein musikalischen und interkulturellen Aspekt („fremde Musikkultur kennen lernen“) der soziale Aspekt (besondere Art des Zusammenspielens, des aufeinander Hörens, der Probengestaltung, der Neugier) bedeutsam ist. In der zusammenfassenden Auswertung spielt eine Rolle, dass der „Rahmen“ für beide Ensembles sehr unterschiedlich ist. Das Bremer Gamelan-Projekt ist das Ergebnis einer neuen ("postkolonialen") Museumskonzeption der 1970er Jahre in Anlehnung an das holländische Vorbild. Das Hamburger Gamelan-Projekt ist der Versuch, die elitäre und überteuerte Elbphilharmonie dem Steuerzahler durch Mitmachaktionen schmackhaft zu machen. Bremen ist sehr stark "konzertorientiert", während Hamburg einen Schwerpunkt im Mitmach-Programm hat. Der Hamburger Leiter praktiziert daher eine tendenziell an javanische Gepflogenheiten angepasste Art der „Probenarbeit“ (lockere Atmosphäre, Essen und Unterhaltung beim Spielen usw.), während in Bremen eine "alternative" Art des Probens nur ab und zu diskutiert worden, nicht jedoch realisiert worden ist. Letzteres aufgrund von Besuchen der Bremer Gruppe in Java.

Beide Gruppen spielen "traditionelle" Gamelan-Musik, über die javanische Kollegen anlässlich eines Besuchs der Bremer Gruppe in Java sagten: "ja, so haben wir früher auch einmal gespielt". Die Bremer Gruppe hat auch schon einige "hybride" Kompositionen gespielt (vgl. MIRA), während der Hamburger Leiter momentan beim Traditionellen bleibt. Auch die von den holländischen Kolonialherren stammende Ziffern-Notation von Gamelan-Musik wird in Hamburg und Bremer gleichermaßen verwendet. "Westliche" Noten können die Spielenden oft gar nicht lesen. In Java wird diese Ziffern-Notation heute auch fast durchgehend verwendet, dient jedoch eher als "Improvisationsgrundlage" und wird nicht wie in Deutschland "noten- bzw. zifferngetreu" abgespielt.

Hier das Ergebnis zu Punkt 2 als Übersichstabelle:

Die Tabelle zeigt die Frequenzen der Instrumente aus Hamburg und Bremen. Man entnimmt der Tabelle (entlang der Zeilen) sowohl die Verstimmung der Instrumente innerhalb eines Orchesters als auch die Unterschiede zwischen Hamburg und Bremen.

Alle Details auf einer Exceltabelle: Download hier.

Stichworte zu den Punkten 3 und 4:

Verstärkt Götte, aber auch Lüderwaldt und Tanoto äußern sich in den Interviews 2022 dahingehend, dass alle als versierte Praktiker und musikalische „Weltenbummler“ das heute viel diskutierte Problem der Kulturellen Aneignung kaum kennen, nicht auf sich anwenden oder einfach überspielen. Einzig Lüderwaldts Gruppe hat schon differenziert über „Exotismus“ diskutiert und einschlägige Gegenmaßnahmen ergriffen. Und alle drei kennen positive Rückmeldung von Javaner auf die deutsche Art, mit Gamelan umzugehen, was sehr gegen die Kritik Kultureller Aneignung spräche. Selbstverständlich wären solche Rückmeldungen nochmals kritisch zu sehen - was weder Lüderwaldt/Tanoto/Götte tun. Die positive Rückmeldung in Java auf die Musik-Vorführungen von Arum Sih hat einiges mit Höflichkeit zu tun. Tanoto wiederum bezieht sich auf die javanische Botschaft und Regierungsprogramme, auch hier wäre Vorsicht geboten. Und Götte zitiert Erfahrungen aus einer Universität in Yoyakarta, wo der Grad der „Verwestlichung“ nicht unerheblich sein könnte. (Von Dieter Mack weiß man, dass die Verwestlichung der javanischen Musikhochschulen soweit fortgeschritten ist, dass es dort Gamelan ebenso schwer hat wie die Zither an der Münchener Musikhochschule.)

Offensichtlich ist den deutschen Gamelan-Aktivitäten noch nie etwas aufgrund political correctness verboten worden. Und man lässt, gefördert von Steuergeldern, Kinder, Familien und andere Laien munter auf Gamelan-Instrumente schlagen, die nach javanischer Auffassung magische Eigenschaften haben - mit einer Ausnahme, die Tanoto und Götte erwähnen: man darf auch in Deutschland nicht "über die Instrumente steigen". Durchforstet man das Internet nach „aktueller“ Gamelanmusik in Java (z.B. Youtube „Yoyakarta Gamelan Festival“ YGF), so erahnt man, dass auch in Java die Diskussion um Kulturelle Aneignung im Gewande von Traditionsbewusstsein und Verwestlichung eine Rolle spielen dürfte. Auch die Publikationen über die Synthesizerstimmung von „Mira“ sind in Java interessiert aufgenommen worden, weil sie Bestrebungen Gamelan der 12-Temperatur anzupassen zuwiderlaufen.

Alle drei Interviewpartner sind auf Umwegen zu Gamelan gekommen. Tanoto, der Javaner mit Migrationshintergrund, hat Gamelan erst in Deutschland kennen und dann lieben gelernt, obwohl er als Komponist kein Bedürfnis verspürt für Gamelan-Instrumente zu komponieren. Lüderwaldt hat im Zuge einer „modernen“ Museumskonzeption die postkolonialen Konzepte aus Holland nachgemacht und daraus ein Alleinstellungsmerkmal für „sein“ Museum erarbeiten können. Götte wiederum ist als bekannter deutscher Komponist von minimal music über einen Kompositionsauftrag zu Gamelan gelangt, dessen Klang ihn fasziniert hat, ohne dass er sich anfangs mit Gamelan oder Java auseinandersetzen wollte.

Es ist zu bedauern, dass noch kein einziger Native-Javaner zum Phänomen „Gamelan in Deutschland“ befragt werden konnte. Stattdessen hat die vorliegende Untersuchung eine große Menge „hybrider“ Formen Kultureller Aneignung gezeigt, die alle mehr von Wesensmerkmalen des deutschen Kulturbetriebs als von javanischer Kultur geprägt sind.

Das „harte“ Fazit wäre, dass in Bremen und Hamburg kein „Verständnis einer fremden Kultur“ sondern (wie es Götte formuliert hat) nur der Überraschungseffekt eines ungewöhnlichen Klanges vorliegt. Zudem lässt sich eine asymmetrische Form des Kulturaustausches nicht ganz von der Hand weisen. Solange es keine Städteparterschaft zwischen Hamburg und Surakarta oder Bremen und Yoyakarta gibt und daraus ein 800-Millionen-Konzertsaal in Java hervorgeht, in dem Geige, Cello, Klavier und Trompete in Mitmachaktionen praktiziert werden, ist die Frage der Kulturellen Aneignungnoch nicht ganz vom Tisch. Beide Städte haben mehr als jede andere deutsche Stadt von Kolonialismus und Wirtschaftsimperialismus profitiert und sowohl das 1896 erbaute Überseemuseum als auch der 1875 errichtete Kaiserspeicher, auf dessen Grundlage die Elbphilharmonie errichtet ist, sind traditionsreiche Orte der deutschen Kolonial- und Wirtschaftsgeschichte.

Auszüge aus den Interviews 2022.

Weitere Ergebnisse: Vortrag "Tuning the World" am 24.11.2023.