...dass die Erinnerung an den Holocaust ("Holocaust Rememberance") vor allem ein Bollwerk gegen den in Deutschland grassierenden Antisemitismus sowie jegliche die deutsche Staatsräson in Frage stellende Kritik an der Politik des Staates Israel sein soll.
Kritik der ritualisierten Holocaustpädagogik
Die deutschen Erinnerungskultur und der Antisemitismus 2024
Holocaustpädagogik
Holocaustpädagogik kommt aus dem Amerikanischen („Holocaust Education“) und bezeichnet alle pädagogischen Konzepte der Bearbeitung des Holocausts in Erziehungseinrichtungen. Im engeren Sinn ist das Ziel der Holocaustpädagogik die Information über die geschichtlichen Ereignisse, im weiteren Sinne jedoch der Umgang von Nicht-Juden mit allem rund um Judentum und Israel, und dabei wiederum mit dem Phänomen des Antisemitismus.
Von internationaler Bedeutung ist das Buch Empfehlungen zum Lehren und Lernen über den Holocaust" , das die International Holocaust Rememberance Alliance (IHRA) heraus gebracht hat. Hier wird, wie auch in dem 2015 erschienenen Sammelband "Holocaust Education im 21. Jahrhundert" (hg. von Eva Matthes und Elisabeth Meilhammer, Klinkhardt-Verlag), fast ausschließlich die Frage erörtert, wie im engeren Sinne das Thema "Holocaust" so bearbeitet werden kann, es es nicht nur eines von vielen historischen Fakten ist, sondern auch Betroffenheit auslöst. Die aktuelle politische Situation vor allem im Nahen Osten und in Deutschland setzt jedoch Akzente hin zu einem Verständnis von Holocaustpädagogik im weiteren Sinne: Es ist momentan - 2024, d.h. nach dem 7. Oktober 2023 - nicht zu verkennen,
Seit einigen Jahrzehnten, insbesondere aber immer dann, wenn Krieg im Nahen Osten herrscht, heben der Zentralrat der Juden, Antisemitismusbeauftragte und Statistiker*innen hervor, dass der Antisemitismus in Deutschland stetig zunimmt. Man muss angesichts dessen eigentlich zwingend zur Überzeugung gelangen, dass die deutsche Holocaustpädagogik gescheitert ist und - technokratisch gesagt - nicht funktioniert. Sie erreicht allenfalls ihr Ziel im engeren Sinne, nicht jedoch die im weiteren Sinne. Meine These ist, dass es eine durchgängige Eigenschaft all' dieser Bemühungen gibt, die zugleich dafür verantwortlich ist, dass die Bemühungen nicht fruchten: Unser Umgang mit dem Holocaust und allem rund um Juden und Judentum, einschließlich Israel und Palästina, ist in hohem Maße ritualisiert und müsste erst einmal - gerade auch pädagogisch - ent-ritualisiert werden.
Erwähnt seien noch weitere Thesen zur stetigen Zunahme von Antisemitismus: (1) Aufgrund einer gesellschaftlichen Sensibiltät werden mehr Fälle als früher gemeldet, die den "alltäglichen Antisemitismus" betreffen, (2) der Antisemitismus-Begriff wird stetig erweitert und umfasst daher mehr einschlägige "Delikte" als dies früher der Fall war, (3) die vor allem arabisch stämmigen Migrant*innen haben einen "neuen Antisemitismus" importiert und bei "Linken" implantiert, (4) viele Lehrer*innen haben selbst Angst davor, eine "Holocaust Rememberance" zu betreiben, weil sie Unfrieden in der Klasse befürchten, (5) die Wahrnehmung der deutschjüdischen Instanzen ist "übertrieben" oder populistisch und die Statistikler*innen folgen brav dem, was politisch korrekt ist, (6) jede UN-Resolution, die gegen Israel gerichtet ist und der Israel zuwider handelt, oder jede Militäraktion, die der Abschreckungsregel 1:10 folgt, wird von "israelkritischem Antisemitismus" begleitet.
Das von mir entwickelte Konzept einer ent-ritualisierten Holocaustpädagogik (im weiteren Sinne) reagierte auf das offensichtliche Scheitern der bisherigen westdeutschen Holocaustpädagogik. Es ist 1999-2002, also zeitlich parallel zur Gründung der IHRA und deren Antisemitismus-Definition, die momentan in Deutschland der Bezugspunkt jeglicher Holocaustpädagogik ist, entstanden und nimmt darauf aber keinen Bezug. Ich habe die Grundidee des Konzepts 2002 in Potsdam bei den "Potsdamer Tagen für Jüdische Musik" vorgestellt (Download Printversion des Vortragstextes). Die Materialien, die auf der vorliegenden Internetplattform ausgebreitet sind, stellen Zeugnisse der Konkretisierung und Erprobung des Konzepts dar.
Was heißt "ritualisiert"?
Der Weimarer Professor für Geschichte Jüdischer Musik Jasha Nemtsov definiert "ritualisiertes Denken" folgendermaßen: „Das ritualisierte Denken bedeutet Wiederholen von starren Formeln, die keinen Bezug zur Realität aufweisen“.
Im Falle der documenta 15 wird von den Medien nicht mehr die Ausstellung selbst (die „Realität“) wahrgenommen, sondern nur noch die „starre Formel“ vom Documenta-Skandal variiert. Im Falle von propalästinensischen Camps auf universitären Campus' wird nicht das Anliegen der Palästinenser*innen sondern die Frage, wie die Uni-Leitung mit einem Polizeieinsatz umgeht, diskutiert. Und im Falle der Parole "from the river to the sea" wird nicht die Frage gestellt, was es bedeutet, dass im Parteiprogramm der Likut genau diese Formulierung für den Zuschnitt eines Jüdischen Staates steht, sondern nur die Frage diskutiert, ob die Parole, wenn sie von Plästinenser*innen ausgesprochen wird, strafbar ist, weil sie der deutschen Staatsräson widerspricht...
2024 hat der israelischer Autor Daniel Marwecki den Begriff "Ritual" vielleicht erstmals explizit verwendet, um das Verhältnis zwischen Deutschland und Israel zu charakterisieren, auch wenn es früher ähnlich kritische Termini gab, wie z.B. Max Czolleks "Gedächtnistheater", und wenn man einmal von der umstrittenen Rede Martin Walsers absieht, in der es zur deutschen Erinnerungskultur hieß "was durch Ritualisierung zustande kommt, ist von der Qualität her des Lippenbekenntnisses":
"Deutsche Politiker pflegen das Verhältnis zu Israel in der Form eines gemeinsamen Rituals. Diese helfen einer Gesellschaft, sich ihrer Grundsätze und Basiskoordinaten zu versichern. Sie beantworten die Frage nach dem Wer und Wohin. Rituale versuchen, innerhalb von Vielfältigkeit und Widersprüchlichkeit gemeinsame Fundamente aufzustellen: sie definieren ein 'Wir', das auf eine geteilte Vergangenheit und in eine gemeinsame Zukunft blickt." (aus: "Absolution? Israel und die deutsche Staatsräson". Wallstein, Göttingen 2024, S. 14.)
In den Wochen nach dem 7. Oktober 2023 hat sich das "tötliche Ritual" zu einem bisher kaum erahnten Höhepunkt aufgeschaukelt. Dies gilt nicht nur in Israel und in Gaza, dies gilt nicht nur in der internationalen Diplomatie, dies gilt auch für die deutsche Öffentlichkeit. Der Terminus "Ritual" ist angesichts des unvorstellbaren Überfalls der Hamas auf israelische Bürger*innen (ob Juden, Muslime oder Christen) wohl etwas verharmlosend. Die Reaktion der israelischen Regierung angesichts des Überfalls der Hamas zeigt jedoch, dass hier ritualisiertes Handeln ausschlaggebender ist als die Frage, welche Zunkuft die ganze Region eigentlich hat.
Ähnlich ritualisiert scheint der inflationäre Gebrauch des Begriffs 'Antisemitismus' - insbesondere des "israelbezogenen Antisemitismus" - in Deutschland nach dem 7. Oktober 2023 geworden zu sein. Da die IHRA-Definition von "Antisemitismus" auch die "Dämonisierung Israels" im Hinblick auf dessen Existenzrecht nennt, kann jede Frage nach den völkerrechtlichen Grenzen des Selbstverteidigungsrechtes Israels als "Dämonisierung" etikettiert werden.
Und reflexartig werden die Lehrer*innen an deutschen Schulen aufgefordert, effektivere Holocaustpädagogik zu betreiben, um jeglichem Antisemitismus Einhalt zu gebieten. Sie sollen dies, so die heute überwiegende Meinung von Politik und Zentralrat der Juden, mittels einer an der Gedenkstätten-Erinnerungskultur orientierten Pädagogik machen. Die ersten Reaktionen der Gedenkstättenverantwortlichen auf den Entwurf einer "Neuen Erinnerungskultur" der Staatsministerin Claudia Roth (siehe unten) hat gezeigt, wie die Prioritäten der Holocaustpädagogik heute gesehen werden.
Wie wird ent-ritualisiert?
Der aktuelle Diskussionsstand kann mit dem Schlagwort „Verstehen als handlungsrelevante
Aneignung von Geschichte“ versehen werden. Dies Konzept versucht, aus den Fehlern und
Misserfolgen der bisherigen Konzepte konstruktiv Konsequenzen zu ziehen und den Umgang mit Holocaust im besonderen und Juden im allgemeinen zu ent-ritualisieren. Die allgemeine
Maximen dieses Unterrichts lauten
- Empathie statt Betroffenheit,
- Emotionen in der Einfühlung,
- Lernen und Handeln im “Schutz der Rolle”,
- Produktorientierte Auseinandersetzung mit historischen Spuren, Kunstwerken usw.,
- Praktizierte Demokratie und Toleranz im Lernprozess.
Der inhaltliche Focus der Holocaustpädagogik verschiebt sich weg von Zahlen und Statistiken und „Horrorfilmen“ hin zum „wirklichen Leben“ und den zunächst auch alltäglichen Gefühlen der Menschen. Statt „die Juden“ den deutschen Jugendlichen in der Schule in Extremsituationen vorzuführen und sie dadurch jeglicher Konkretheit zu berauben, sollten Juden zuerst einmal im normalen - deutschen - Leben als „Menschen wie Du und Ich“ erscheinen. Als Menschen mit lebensnahen Gefühen, mit Wünschen, Hoffnungen, Problemen, Sorgen und Fehlern.
Hier liegt die Chance für Musik. Und hier ist die Chance für jene
Klezmermusik, die die vielfältigen und widersprüchlichen Gefühlen des jüdischen Lebens
klingend zum Ausdruck bringt.
Die beste Methode der pädagogischen Vermittlung von Klezmermusik, die auch in der interkulturellen Musikerziehung nachgefragt ist, ist die „szenische Interpretation“ von Musik.
Hier finden Empathie, Rolleneinfühlung, ein Schutz der Rolle, die produktive Auseinandersetzung mit Inhalten und eine notwendig tolerante Arbeitshaltung statt.
Die spezifischen Möglichkeiten eines derartigen Musikunterrichts sind
- Empathie erzeugen als Verständnis ohne oktroyierte Gefühle oder Betroffenheit,
- Musik als Teil einer widersprüchlichen Lebensrealität erfahren,
- Musik machen (als Erlebnis) und Musik reflektieren (zu Erfahrung) in einem einheitlichen, sinnlichen Prozess.
Lesen Sie den Artikel "Zur gegenwärtigen Situation der Holocaustpädagogik" (kostenloser Download), der aus verschiedenen Vorträgen der Jahre 2002 bis 2005 exzerpiert ist und meines Erachtens 2024 aktueller denn je ist, denn die aktuelle bundesdeutsche Diskussion um Antisemitismus zeigt, dass das ritualisierte holocaustpädagogische Denken bei führenden deutschen Juden, maßgebenden Politiker/innen und den Medien noch immer präsent ist.
Weitere einschlägige Varianten dieses Artikels finden Sie unter den Klezmer-Downloads (hier).
Die Idee der Ent-Ritualisierung habe ich auch auf den Nahostkonflikt als ganzen bezogen und ein "multikulturelles Palästina" gefordert. Die Kurzform eines einschlägigen Vortrags ist auf Yotube zu finden. Der komplette Vortrag ist als pdf-Download hier.
Staatsministerin Claudia Roth versucht, 2024 die deutsche Erinnerungskultur neu zu bestimmen und zu ent-ritualisieren:
"Die NS-Verbrechen und die Präzedenzlosigkeit der Shoah nehmen in unserer Erinnerungskultur eine zentrale Rolle ein. Die Aufarbeitung der SED-Diktatur und die Erinnerung an das Unrecht des Kolonialismus bilden weitere erinnerungspolitische Schwerpunkte. Darüber hinaus gilt es, eine lebendige Erinnerungskultur zu fördern, in die auch Menschen mit Einwanderungs- und Fluchtgeschichten ihre Erfahrungen einbringen können. Nur eine dynamische Erinnerungskultur, in der sich die Vielfalt unserer Gesellschaft spiegelt, kann Gemeinschaft stiften und den gesellschaftlichen Zusammenhalt in unserer Demokratie stärken."
Link auf die offizielle Internetseite.
Download des Entwurfs einer Neuorientierung der deutschen Erinnerungskultur vom 1.2.2024.
Dies kurzzeitig online verfügbare Dokument ist aufgrund des Protestes der Verwalter der ritualisierten Holocaustpädagogik inzwischen vom Netzt genommen worden.
Dokumentation der Diskussion um Claudia Roths Entwurf: Download hier!
"Tatort Bergen Belsen am 26. April 2015" - ein Beispiel ritualisierter Holocaustpädagogik
Hier ein Artikel geschrieben anlässlich der Gedenkfeiern in Bergen Belsen am 12. April 2015.
Eine ausführliche Auseinandersetzung mit der
Gedenkfeier zum 70. Jahrestag der Befreieung von Bergen Belsen unter dem Asopekte der "Ritualisierung" ist hier als pdf-Download zu finden.
Dazu als Dokumente das Programmheft der Veranstaltung: Teil 1 und Teil 2.